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Meine ersten Erinnerungen fallen in die Zeit unseres letzten Umzuges von der Quellenstraße in die Gudrunstraße, und angeblich war ich damals ein „weißblondes“ Lockenkind von 4 oder 5 Jahren. Ich hatte demzufolge nebst meinem Rufnamen Milli (Ludmilla) auch noch den eines Weißerls, was mir oft bittere Tränen entlockte. Ich saß mit Vorliebe auf dem Randstein vor dem Haus und, gleich einer Katze, hatte ich ein kolossales Zugehörigkeitsgefühl nicht zur Familie, aber deren Standort, denn jedesmal wenn übersiedelt wurde, war die Milli unauffindbar, wenn endlich „Vergatterung“ war und die provisorische Unterbringung auf den Strohsäcken für die erste Nacht erfolgen sollte. Prompt fanden sie mich dann, selig verträumt, auf dem Trottoir des alten Wohnhauses und nahmen mich mit, wie ein vergessenes Möbelstück.
Das 27er Haus war die letzte Station. Von dort wanderten die Vöglein ‒ wenn sie flügge wurden ‒ in alle Teile Wiens ab und nur der Vater, die Mutter und die Lintschi sind von dort aus zu Grabe getragen worden. Jetzt wird es aber langsam Zeit, daß ich die zahlreichen, hoffnungsvollen Mitglieder der Familie derer von Focke ‒ die Fockischen ‒ dem Leser vorführe.
Da ist einmal der Vater: lieb, weichherzig, lebensuntüchtig und schüchtern, sehr fleißig und gewissenhaft und nicht sehr gesund. Während seiner Militärdienstzeit in Wien hat er die Mutter (die wahre Unschuld vom Lande) kennen und lieben gelernt. Es war eine so seltene Liebe über’s Grab hinaus, wie sie nur dem glaubhaft erscheint, der sie, wie ich, an meinen Eltern erlebt hat.
Die Mutter war weitaus energischer und strenger, wenn auch gleichfalls ein „Tschapperl“, wie ich heute weiß. Aus ärmlichsten Kleinhäuslerverhältnissen und schon mit 15 Jahren nach Wien zur hier verheirateten Schwester geschickt, die sie bei irgendeiner „ehrbaren“ Familie als Dienstmädchen unterbringen sollte.
Und hier in Wien, bei irgendeiner Gelegenheit, hat der „fesche“ Soldat, der ein hochmusikalisches Mitglied einer Militärkapelle war, und ein flotter Tänzer obendrein, das Herz der „kleinen Malena“ erobert und sie ein Leben lang geliebt.
Dem ersten Stammhalter war kein langes Leben beschieden. Dann kam der Pepi, zwei Jahre später die Mizzi und nun, in exakten Abständen von wiederum zwei Jahren, der Franzi, die Toni, der Hansi, die Milli, der Loisi und die Lintschi. Die Wahl der Namen war dem jeweiligen Geburtsdatum [Anmerkung: Hl. Ludmilla v. Böhmen, 16. September] überlassen, jeder brachte sich seinen Namen einfach mit und es klappte wunderbar.
Die Familie war ‒ auch für damalige Verhältnisse ‒ eine reichhaltige, und da meine Eltern fromm und gottesfürchtig waren, bauten sie im kindlichen Vertrauen auf die Hilfe und den Segen des Himmels bei der Erhaltung ihres Nachwuchses. Sie selbst waren unermüdlich fleißig bis in die späten Abendstunden. Nach seiner Militärdienstzeit arbeitete der Vater als Maurer oft genug auch noch abends privat, wobei die jeweils ältesten Kinder mitzuhelfen hatten.
Im ersten Weltkrieg verdiente die Mutter mit dem Ausputzen von Wohnungen dazu. Der Vater, der infolge einer schweren Gelenksentzündung einen Herzklappenfehler hatte und nicht kriegstauglich, wurde von seiner Dienststelle (Wiener Gaswerke) auf Montage geschickt und war oft wochenlang nicht zuhause. Er war meist in kriegswichtigen Betrieben, wie z.B. Wöllersdorf eingesetzt, dort, wo sich eines Tages die schwere Explosion ereignete.
Wir Kinder hatten jedes unseren Anteil an Arbeit zu leisten und mußten fleißig mithelfen. Nicht nur die üblichen Verrichtungen im Haushalt, wie Einheiztour im Küchenherd und winters im Zimmer, am frühen Morgen um 5 Uhr (im Sommer noch früher), oh nein, wir waren eine gut organisierte Truppe, die von der erfinderischen Mutter gut eingesetzt wurde zum Allgemeinwohl. Es gab da die mannigfachsten Arten Geld zu verdienen ‒ auf ehrliche Weise selbstredend ‒ und es wurde keine übersehen und versäumt. Da war einmal das Fliegenfänger-Verkaufen vor Beginn der Schule. Wer erinnert sich noch an die schönen, roten Papierhüte, die, mit Fliegenleim bestrichen, gegen ein paar Groschen verkauft wurden, und mit denen die Fockischen noch eine halbe Stunde vor Schulbeginn durch die Straßen liefen und ihre „Ware“ mit flehender Gebärde an den Mann, vielmehr an die Hausfrau bringen wollten. Ich selbst hab es immer mit der stillen Pantomime versucht und meist auch geschafft, während die Mizzi schon hier ihre theatralische Begabung und Beredsamkeit dramatisch zur Höchstform entfaltete und natürlich immer das Rennen machte.
Mein erstes Geld verdiente ich unfreiwillig dadurch, daß ich, auf dem Rinnstein sitzend, die Grünzeugbüschel zu bewachen hatte, die die Fockekinder im Morgengrauen bei den Gärtnern in Simmering erbettelt hatten, und die dann zuhause zu Suppengrün gebunden an irgendeiner Straßenecke feilgeboten wurden. Ich war verschlafen und verfroren, ganz winzig klein und noch nicht Mitglied des „aktiven“ Ernährungstrupps ‒ und irgendeine „liebe Dame“ drückte mir voll Mitleid und Wohlwollen eine Münze in die Hand. Später hat mir’s die Mizzi natürlich weggenommen, aber beeindruckt hat’s mich sehr, und ich war gegen mich selbst voller Erbarmen und Mitleid.
In den Ferien war natürlich Hochbetrieb. Erst einmal ‒ in aller Frühe, wegen der Konkurrenz ‒ die Fliegenfängertour, dann in die Kirche, Frühstück (schwarzer Malzkaffee mit Sacharin, ein Stück trockenes Brot). Danach Arbeitseinteilung seitens der Mutter. Das „Punzerl“ mußte bewacht werden, was nicht immer sehr erfreulich war, weil die anderen Kinder zum „Kanters“ baden gehen wollten oder „Eckerlgucken“ spielen ‒ und wir Fockischen an die Wiesen gekettet waren, wo das „Prachthuhn“ weidete, und mit stolzgeschwelltem Kamm, täglich zur gleichen Zeit den Weg in den zweiten Stock nahm, um sein Ei zu legen, ein paar anerkennende Worte seines Frauerls zu kassieren, wenn dieses zuhause war, um dann seelenruhig wieder die Stiegen hinunterzuspazieren, zu neuerlicher Nahrungssuche. Nach dem Mittagessen löste uns die Mutter manchmal ab und bewachte ihren Liebling inmitten einer Gruppe von stolzen Hendlbesitzerinnen selbst.
Einmal hat sich das „Punzerl“ mit seinen Hühnerfreundinnen zu weit auf die andere Straßenseite hinübergewagt, weil dort an der Planken so besonders saftige Gräser wuchsen, da hat’s ein Bierkutscher flink in seine Haferkiste praktiziert. Wir sind ihm aber noch rechtzeitig draufgekommen und er hat’s wieder herausrücken müssen, allerdings erst nach einer dramatischen Bedrohung seitens der „kriegerischen“ Frauen und unter dem wilden Geschrei von ein paar Dutzend Kindern. Da das Punzerl ein Kind von meiner Mutter böhmischen Heimat war, hat er sich natürlich das fetteste Hendl ausgesucht gehabt, kein Krepierl.
Leider ist das Punzerl eines Tages aus unerfindlichen Gründen von der Bodenstiege aus in die Tiefe gesprungen und hat sich derfallen. Wir Kinder hatten dort oben gerade eine sehr wichtige Versammlung und daher das Hendl mit hinaufgenommen, damit es nicht ohne Aufsicht blieb. Vielleicht hat’s ihm zu lang gedauert und es wollte wieder „äußerln“ geh’n oder es war einfach lebensüberdrüssig?
Die Sache wurde für mich sehr schmerzhaft, denn die Mutter hat ihren Kummer an mir sehr stark abreagiert.
Damals war ich das älteste der noch schulpflichtigen Kinder und daher für alles was geschah bzw. unterlassen wurde in erster Linie verantwortlich. Der Loisi und die Lintschi machten mir das Leben sauer mit ihren unberechenbaren Streichen. Die Mutter war fast immer auf Arbeit und ich mußte sie zuhause vertreten.
Um 4 Uhr früh, oft aber schon den Abend vorher, waren die Malersachen zur Kundschaft zu tragen. Diverse Kübel, Pinsel, Säcke mit Pfeifenton, Farben, Malerkleidung und meistens auch die Leiter. Da gab’s jedesmal einen Kampf, wer die leichtesten Sachen tragen sollte, und ich war den beiden Jüngeren nicht gewachsen und schleppte verbittert die oft schweren Säcke und die verdreckten Kübel durch die Gegend.
Dann hieß es aufräumen, kochen, Boden aufreiben, etc.
Aber kaum war die Mutter aus dem Haus, da tauchten schon die ersten „Gäste“ auf. Die Kinder vom Haus und Umgebung, allen voran die Blodiceks. Erst der Fredy, genannt „Strafhölzl“, wegen seiner dünnen Beine, dann seine jüngeren Zwillingsschwestern die Leni und die Mizzi, nur von ihrer Mutter und uns Kindern auseinanderzuhalten. Die drückten sich in den Ecken des Zimmers herum, wo der Loisi schon Vorbereitungen fürs Pimperlspielen getroffen hatte. Er produzierte sich auch gern als Mimi, meistens in den Sonntagskleidern meiner Mutter und brachte durch seine Einfälle die Zuschauer so in Stimmung, daß vor allem das Zwillingspaar sich vor Lachen nicht zu halten wußten und an ihrem jeweiligen Standplatz immer einen „feuchten“ Fleck hinterließen. Der Loisi wußte das und legte es natürlich drauf an. Dabei ließen sie niemals ihre Hände los, auch bei den tollsten Verrenkungen nicht. Ich wurde immer nervöser, weil ich längst das Zimmer hätte ausgerieben haben sollen und der Loisi kein Ende fand. Auf dem Kleiderkasten standen eine ganze Reihe von „Kaffeehäferln“ zur Zierde und der Loisi schloß sich in den Kleiderkasten ein, damit ich ihm nicht die Kleider entreißen könne. Während er von innen die Türe zuhielt, zog ich von draußen wie verrückt und auf einmal fiel der Kasten um, die Häferln flogen kreuz und quer durch die Gegend. Der Loisi entstieg, in Kleider eingewickelt dem Kasten, der mit Hilfe eines rasch gebildeten Befreiungstrupps aufgestellt worden war. Die „Zuschauer“, die erst einmal kräftig mitgespielt hatten, zerstreuten sich ziemlich schnell und etwas beklommen und ich dachte, nicht minder beklommen, an „Liebmütterlein“ und die zu erwartende Strafe. Am Abend gab es dann natürlich die Portion Prügel. Was mich mehr kränkte als den Loisi, der sich aus derlei Dingen schon aus Gewohnheit nichts mehr machte.
Immer wenn der Vater heimkam, hatte die Mutter ein langes Register an Missetaten aufzuzählen und der arme Vater sah sich veranlaßt in „gerechten“ Zorn zu verfallen und zu strafen, weil er doch dazu verpflichtet war. Da er sich nicht aufregen sollte und wollte, verschob er die Exekution immer wieder auf einen späteren Zeitpunkt, bis es dann eben nicht mehr anders ging und er gleich ein „Pauschalverfahren“ praktizierte. Solche Augenblicke waren immer hochdramatisch und der liebe, arme Vater hat sich dabei sicher am meisten aufgeregt und gekränkt. Bei den düsteren Worten: „Hose runter, Kitteln in die Höh“, erhob sich ein halblautes Jammergeschrei und Gewimmer wie an der Klagemauer und in solch spannenden Momenten soll ich ‒ als ich noch kleiner war ‒ nach Aussage der Delinquenten dem Vater vor die Füße und in den Arm gefallen sein und damit den sowieso nicht allzubereiten Züchtigungswillen zur allgemeinen Zufriedenheit auf einen für später angedrohten Zeitpunkt abgewehrt haben.
Dabei war ich, nach gleichfalls authentischen Aussagen der Geschwister ein „braves“ Kind, das eigentlich nie bestraft werden mußte, nur wurde ich eben eines Tages als „Verantwortliche“ von der Mutter für Dinge bestraft, die die beiden Jüngsten ausheckten und durchführten.
Wie gesagt, hatte ich für manches gradzustehen und die Mutter begriff nicht, daß ich ihnen einfach nicht gewachsen war und hat mich oft für eine nicht geleistete Arbeit oder einen entstandenen Schaden verantwortlich gemacht. Dabei war sie selbst den Beiden auch nicht gewachsen. Und die Lintschi war nun einmal ihr Liebling, und trotzdem sie viel Kummer mit ihr erlebt hat (sie hat sich mit 19 Jahren aus unglücklicher Liebe mit Holzkohlen vergiftet), hat sie ihr immer eine Sonderstellung eingeräumt. Weiß Gott, warum die „beiden Letzten“ gar so ungebärdig waren? Wenn sie ihre Aufgaben nicht erfüllen wollten und auch noch Kritik an der Mutter übten, konnte die diese in ihrer nun schon körperlichen Hilflosigkeit ‒ sie war eine stattliche Frau von fast 90 Kilo Gewicht, aber mit schweren, von der vielen Arbeit auf der Leiter müden Beinen ‒ nicht erwischen. Mit ihren jungen Beinen liefen sie die Stiegen hinunter und davon. Ich war immer entsetzt darüber, daß man sich einer gerechten Strafe durch Flucht entziehen wolle und voll Mitleid mit der Art der Mutter, die es eben nicht besser verstand. Wie oft hat sie mich ungerecht und ohne sich vorher zu vergewissern über eventuelle Ursachen in manchen Situationen geohrfeigt, und ich habe mich dieser „Züchtigung“ ohne einen Laut und ohne ein Wort der Aufklärung gestellt, voller Traurigkeit und fassungslos über dieses Nichtbegreifenkönnen. Später habe ich von der Mizzi erfahren, daß die Mutter vor meiner Art zu „reagieren“ förmlich Angst hatte und ihr die natürliche Reaktion der Anderen lieber war, da sie mit der meinen nichts anzufangen wußte.
So viele Dinge, die die anderen Geschwister kritisierten ‒ Kinder sind oft schonungslos ‒ haben mich schrecklich verstört, beschämt und mit Mitleid erfüllt, denn ich wußte, daß meine Mutter keine Stunde ihres Lebens ohne Arbeit und Sorgen gewesen war. Ihr oft kindisches Verlangen nach kleinen Geschenken und Naschereien entsprang wohl der verspäteten Sehnsucht nach zärtlicher Fürsorge durch ihre Mutter, deren Liebe sie nie kennengelernt hatte. Man konnte ihr keine größere Freude bereiten, als wenn man mit ein paar Blumen oder ein paar Schaumrollen zu ihr kam. Mein Vater hat zeitlebens nie verabsäumt, mit ein paar selbstgepflückten Blumen, die es ja in unserer Gegend überall auf den Wiesen gab, heimzukommen und sie ihr mit einem lieben Lächeln für ihren Hausalter zu überreichen. Für den Winter gab es ein paar Kunstblumen, scheußliche, verstaubte Dinger. Seither, glaub ich, kann ich Kunstblumen nicht leiden.
Manchmal kommt die Frau Sperl zu uns. Das ist eine Landsmännin von der Mutter, mit der sie ein bisserl tschechisch reden kann. Diese Frau Sperl ist ein grausliches, ungewaschenes Frauenzimmer, das aus jedem Abfallkübel Sachen heraussucht und zu uns mitbringt in ihrer Tasche. Einmal war es ein Herrenhemd, das „jemand“ abgelegt hatte. Sie war ganz verwundert, daß man ein noch so gut erhaltenes Stück einfach in den Mistkübel stecken konnte, doch in kürzester Zeit war dieses Geheimnis geklärt. Das Hemd wimmelte von Läusen, die sich in kunstvollen Windungen plötzlich aus der Tasche heraus in die Lüfte schwangen und an einem Mantel, der an der Wand darüber hing, ein neues „Zuhause“ anstrebten. Meine Mutter war entsetzt und empört und hat die gute Frau Sperl rausgeworfen, mitsamt ihren Läusen.
Doch nach einiger Zeit war sie wieder da. Einmal hat sie den Loisi, die Lintschi und den Böhm Fritzl vom Nachbarn zum Schwammerlsuchen mitgenommen. Am späten Nachmittag langten die drei wieder ein, doch sie waren sonderbar lustig und ganz anders als sonst. Meinen Eltern wurde ganz unheimlich zumute, und die drei wurden auf dem raschesten Wege ins Preyersche Kinderspital gebracht. Dort stellte sich heraus, daß sie Tollkirschen gegessen hatten, die sie wohl für Heidelbeeren gehalten haben mochten. Es war sozusagen Rettung im letzten Augenblick, doch irgend etwas ist den Dreien bestimmt davon zurückgeblieben. Der Bruder Alois, wie er später hieß, wurde in bisserl ein Spinner, die Lintschi anscheinend gemütskrank, der Dritte allerdings starb mit 15 Jahren an einer Angina, was man ja wohl nicht mehr mit den Kindheitsereignissen in Zusammenhang bringen konnte. Aber meine beiden Geschwister waren durchaus nicht mehr die „Alten“, glaube ich. Die Frau Sperl wurde angezeigt und mußte für 3 Tage in den den Arrest, von da an haben wir von ihr nichts mehr gehört.
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Lustig war’s, wenn der Herr Novak, der in Lainz im Altersheim wohnt, meine Eltern an Sonntagen besuchen kommt. Er trägt einen Spazierstock und einen steifen Hut, den er immer in der Küche ablegt. Wir Kinder durften ja niemals ins Zimmer, wenn Besuch kam, obwohl es da drinnen bestimmt sehr gesittet zuging. Doch sind die „Gespräche der Erwachsenen eben nichts für Kinder“, sagt der Vater. Uns ist fad und so hat der Loisi wieder einmal eine „Idee“. Jeder darf einmal in den Hut des Herrn Novak hineinhauen, muß ihn dann aber wieder fein säuberlich ausbuchten, damit der Nächste sich das Vergnügen machen kann. Dieser Vorgang wiederholt sich ein paar Mal, bis der Vater zur Tür herausschaut, weil wir uns gar so gut unterhalten. Damit ist allerdings auch der Spaß beendet und es gibt wieder einmal Krach.
„Jetzt spielen wir Zirkus“ sagt der Loisi, stellt zwei Sessel kunstvoll übereinander und produziert sich als erster darauf. Ich habe eine Vorliebe für die „Hohe Schule“ der Kunstreiterinnen und möchte auch einmal mit „Ella hopp“ durch einen Reifen springen. Zwar ist dieser Reifen nur angedeutet, aber der Sprung gelingt mir fast perfekt. Doch bevor ich auf der Kohlenkiste lande, hat der Loisi den Deckel blitzschnell aufgemacht und ich lande kopfüber im Koks. Daß ich mir damals nicht das Genick gebrochen hab, ist ein Wunder.
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Nach dem „Fliegertod“ vom Punzerl hat sich die Mutter aus Böhmens grünen Fluren ein neues Hendl mitgebracht, das aber lange nicht die Qualitäten des Abgestürzten hat. Trotzdem hängt es seinem Frauerl sehr an und reagiert ‒ mehr als wir Kinder ‒ auf die in tschechischer Sprache geführten Diskurse und die verschiedenen Kosenamen, die ihm die Mutter gibt. Eines Tages verschwindet auch dieses freude- und eierspendende Geschöpf, während wir ‒ anstatt auf der Wiesen zu bleiben ‒ mit den anderen „Eckerlgucken“.
Die Auswirkungen sind verheerend. Ich weiß gar nicht mehr, wer an diesem schwarzen Tag die Oberaufsicht gehabt hat, auf jeden Fall setzt es für alle drei Prügel. Die Mutter ist in Tränen aufgelöst und fragt verzweifelt an allen möglichen Orten, ob nicht jemand ihren „Liebling“ gesehen hätt. Und siehe da, nach ein paar Tagen erzählt ihr wer, er hätte gesehen, wie ein in der Gegend bekannter „Gelegenheitsdieb“ das Hendl in seinen Sack gesteckt hätte und zum „Tierhändler“ gebracht hat. Dies hören und mit fliegenden Gewändern und wild klopfendem Herzen dort hinzurennen, ist eins. Beim Eintritt ins Geschäft erblickt die Mutter mit dem Auge der Liebe natürlich sofort ihr Hendl und verlangt es von dem als „Hehler“ bekannten „Geschäftsmann“ zurück. Der hat erst einmal geleugnet und erklärt, daß das nicht meiner Mutter Hendl sei, sondern ein von ihm ganz legal gekauftes. Worauf die Mutter sich an das entführte Opfer wendet und mit diesem tschechisch zu parlieren beginnt. Und siehe da, die Wirkung ist so verblüffend, daß der augenblickliche „Eigentümer“ zwar noch immer leugnet, aber merklich wortkarger wird. Die Mutter verläßt mit einem Teil ihres Anhanges das Geschäft und kehrt kurz darauf mit einem Wachmann zurück. Worauf sich die ganze rührselige Erkennungsszene wiederholt und das „Punzerl Nr. 2“ aufgeregt mit den Flügeln schlägt und herzbewegend gackert. Es wird Strafanzeige erstattet und die Mutter trägt ihren wiedergefundenen Schatz im Triumph nach Hause, gefolgt von einer Schar begeisterter Frauerln und einem ganzen Schwanz von neugierigen Kindern.
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Wie schon oft sollen die Toni und die Mizzi dem Vater nach Arbeitsschluß helfen und vor allem leuchten. Zu diesem Zweck tragen sie am Nachmittag das erforderliche Material zur Frau M., wo der Vater den Küchenherd neu ausschamottieren soll. Dazwischen ist noch etwas Zeit, und die Zwei vertreiben sich diese mit „Blindenführen“. Die Toni nimmt die Mizzi und führt sie kreuz und quer und fragt sie zwischendurch, ob sie weiß, wo sie sind. Dann läßt sie sie plötzlich los und die Mizzi darf die Augen aufmachen. Vorher tut sie aber noch einen verhängnisvollen Schritt und rennt mit dem Kopf direkt ins Postkastl. Natürlich hat sie einen ganz schönen Dippel am Hirn und ist beleidigt. Aber dann müssen die Beiden doch lachen und schauen, daß sie zur Frau M. kommen. Der Vater ist schon da und die Arbeit fängt an. Er ist müde und sicher auch hungrig, und die beiden „Madln“ kichern dauernd, während die Kerze, die die Mizzi halten soll, wackelt und der Vater nichts sieht. „Trau mir ja nicht“ hat er schon ein paar Mal gesagt, was bereits ein leichtes Donnergrollen andeutet, aber sooft die Toni die Mizzi anschaut und den Dippel sieht, gehts wieder los. Der Vater hat grad eine Hand voll nassen Lehm genommen, um ihn mit Schwung in die Herdöffnung zu praktizieren. Wütend hebt er die Hand und schmiert der Mizzi eine, im wahrsten Sinn des Wortes, daß es der für einen Moment die Red’ verschlägt und sie nichts sieht. Der Vater ist wohl am meisten erschrocken und wischt schnell und behutsam das Gesicht der nun kläglich heulenden Mizzi ab, die an diesem Tag ganz schön zum Handkuß gekommen ist. Die Zwei erzählen nun dem Vater, warum sie dauernd lachen mußten, und auf dem Heimweg kauft er ihnen ein Sackerl Neapolitaner-Abfall als Schmerzensgeld.
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