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Die Toni ist 4 Jahre älter als ich und zu ihrer Zeit (bis zu ihrem Schulaustritt) für alles im Haushalt verantwortlich. Sie ist ein wildes Ding, mit den tollsten Einfällen und der Schrecken der Frau Löschinger (die damals unsere Hausmeisterin war). Die Löschinger Mizzi, ein „wohlbehütetes, einziges Kind“, darf mit uns Fockischen nicht verkehren, dazu stehen wir sozial zu tief unter der Familie, denn der Herr Löschinger ist immerhin Straßenbahner. Die Mizzi hat zwei lange blonde Zöpfe, an denen sie von den sozial unterbemittelten Buben des öfteren gezogen wird. Und ihre Mutter hat nichts besseres zu tun, als beim armen, geplagten Herrn Focke Klage zu führen. Natürlich machen ihr die Kinder alles zu Fleiß, so beschmieren sie zum Beispiel die Hausschnalle manchmal mit Hundedreck, und wenn die Frau Löschinger zusperren geht widerfährt es ihr nicht einmal, daß sie mitten ins „Glück“ gegriffen hat. Warum sie immer wieder nur zu meinem Vater kommt, hat den Grund, daß die anderen Eltern im Haus sie hochkantig hinausgeworfen hätten. Sicher ist die Toni kein Unschuldslamperl und so kommt’s einmal, daß bei einer solchen Gelegenheit der Vater der Toni eine Ohrfeige geben will, diese aber eine Reflexbewegung macht und dabei in ein mit Mohn gefülltes Gurkenglas fällt. Für diesen Mohn hat meine Mutter redliche Arbeit in ihrer Heimat geleistet und nun liegt der kostbare Schatz mit Glassplittern vermengt auf der Erde. Die Toni heult und der Vater ist wütend aus vielerlei Gründen. „Regens ihna net auf, Herr Focke!“, sagt die edle Dame und verläßt hochbefriedigt unsere Wohnung.
Die Mutter war damals oft in ihrer Heimat und hat bei ihrer Schwester viel in Haus und Feld und Stall mitgearbeitet, da ja die Männer nicht da waren. Dafür bekam sie dann ein bisserl was an Lebensmitteln, mit denen sie ‒ zitternd vor der Grenzkontrolle ‒ aber meistens unbelästigt zu Hause anlangte. Dann gab es wieder einmal einen „Mohnstrudel, oder Skuwanki“). Ihre Germmehlspeisen waren im ganzen Haus berühmt, so flaumig und zart war der Teig, das Geheimnis dabei aber war die gewissenhafte Prozedur des Teigabschlagens, das eine Wissenschaft für sich ist. Wie oft sitzt die Mutter auf ihrem Küchenschemel und ich muß den Teil rühren, in kleinen, zarten Schlägen, bis ich glaube, die Hände müßten mir abfallen, während sie den Weitling fest mit beiden Händen auf ihrem Schoß hält.
Um wieder auf die Toni zurückzukommen. Da also die Mutter oft nicht hier ist, muß sie, mit unserer Unterstützung, den gesamten Haushalt führen. Dazu gehört natürlich auch das Wäschewaschen. Da sich die Waschküche im Keller befindet, muß die Wäsche zum Aufhängen hinauf auf den Dachboden geschafft werden. Das geschieht unter Assistenz ihrer gleichaltrigen Freundin, der Böhm Steffi, einem bildhübschen, schon mit vierzehn Jahren vollentwickelten Mädchen, dem die Burschen schon nachstellen. Sie ist kein großes Kirchenlicht, aber nett. Mit einem weiteren halben Dutzend kleinerer Kinder wird also der Weg zum Wäscheaufhängen angetreten. Für heute ist eine besondere Sensation als Belohnung für die Mitarbeit geplant. Vorsichtshalber wird die Bodentür von innen zugesperrt und die Dachluke geöffnet, dann klettert eine nach der anderen auf’s Dach hinaus und darf bis zur Dachrinne hinunterrutschen. Es ist eine „wilde“ Sache und das Geschrei der Kinder dringt bis hinunter auf die Straße, wo eine „entsetzte“ Menschenmenge den Atem anhält, vor Angst, daß plötzlich eins der Kinder über den Dachrand hinausfliegen könnte. Die Frau Löschinger hat einen Wachmann geholt, der die Toni auffordert, die Bodentüre aufzusperren, was nach einigen Verhandlungen auch geschieht. Das Drama am Abend brauche ich wohl nicht eigens zu schildern.
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Der Hansi kommt langsam in das Alter, wo die Buben es mit dem Rauchen probieren. Da das Klosett sich neben der Wohnungstür auf dem Gang befindet, zieht sich der Hansi manchmal dorthin zurück, und die Mutter gibt mir den Auftrag zu kontrollieren, ob er seinem Laster tagsüber frönt. Gewissenhaft versuche ich meiner Aufgabe gerecht zu werden, obwohl mir nicht ganz wohl dabei ist und ich mir nicht sehr schwesterlich vorkomme. Trotzdem schaue ich halt einmal durch das Schlüsselloch und der liebe Hansi, der das weiß, steckt von innen ein Stück Draht durch die Öffnung, um mich für meine Neugier zu bestrafen. Prompt erwischt er mich im Auge, zum Glück nur so, daß ich eine kleine Verletzung im Weißen des Auges habe (was heute noch feststellbar ist). Es schmerzt und ist stark gerötet und tränt sehr. Jetzt kriegt der Hansi es doch mit der Angst und glaubt mich damit zu trösten, daß er mir die Haare mit Schmalz einschmiert. Die heimkehrende Mutter sieht als erstes mein fetttriefendes Haar, mein Auge wäre ihr wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Doch diese Vergeudung des kostbaren Nahrungsmittels büßt der Hansi mit einigen Ohrfeigen. Das Rauchen hat er sich aber bis kurz vor seinem Tode nicht mehr abgewöhnt.
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Im Winter hat’s auf den Wiesen und am Eislaufplatz immer eine Hetz gegeben. Mit unserem „Bretthupfer“ fahren wir die verschiedenen Berg’ln hinunter, oder auch auf der Schultasche. Hie und da sieht man einen richtigen Schlitten, aber so was Feines würden wir gar nicht haben wollen. Mit nassen Füßen und Kleidern, ganz durchfroren, aber herrlich müd’ und hungrig geht’s bei Einbruch der Dunkelheit heim. Ja, damals hat’s noch einen richtigen Winter und auch sonst ganz normale Jahreszeiten gegeben.
Die Lintschi und ich haben zusammen ein Paar Eisschuhe. Ganz was Billiges zum Anschrauben. Ich weiß gar nicht, wer uns die geschenkt hat, aber wir sind selig über diesen Besitz. Das Problem ist nur, daß wir keine passenden Schuhe dafür haben. Das heißt, die Lintschi schon, aber ich nicht. Da komm’ ich auf eine ganz tolle Idee. Die Mizzi hat ein paar Malerschuhe zum Schnüren, nur der Absatz ist ein wenig zu hoch. Also hacke ich ein Stückel weg und schraube mir recht und schlecht „meine Eisschuhe“ drauf. Es geht ganz gut, wenn ich auch ‒ so wie die Lintschi ‒ mit dem anderen Fuß kräftig antauchen muß. Ich bin sehr glücklich über diese Lösung. Weniger die Mizzi. Wie die erfaßt hat, was mit ihrem Schuh geschehen ist, hat sie mich ganz schön her’prügelt und sich bei der Mutter bitter beklagt. Aber ich durfte den Schuh behalten, denn in seinem amputierten Zustand hätt’ sie ihn ja doch nicht mehr brauchen können.
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Aufregend wird’s so um den November herum, da beginnen wir die ersten Christbaumstückeln zu erstehen. Viel Geld haben wir ja nicht, obwohl wir jeden Groschen dafür sparen, und es sind ja auch nur die billigsten Fondantringerln, die wir kaufen können. Aber es ist eine Freude, wenn wieder eine Reihe im Karton komplett ist. Und dann, kurz vorm Heiligen Abend, kauft die Mutter ein bisserl buntes Seidenpapier und wir schneidens in entsprechende Stückeln und machen Fransen hinein. Da unsere paar verhungerten Ringerln sich auf dem Baum sehr dürftig ausnehmen, spendiert die Mutter ein paar Stücke Würfelzucker, der natürlich auch noch halbiert wird, der Rest vom Papier wird mit kleinen Koksstückerln aufgefüllt. In der Nacht, wenn man glaubt daß alle schlafen, greift man im Dunkeln ganz behutsam zu und erwischt dann irgendein Stück. Es raschelt zwar ein bisserl, aber es scheint niemand gehört zu haben. Schon läßt man in der Vorstellung genüsslich den Zucker auf der Zunge zergehen, doch oh Schreck und Tücke, man hat ein Stückerl Koks erwischt und ist „verbittert“. Am ersten Feiertag gibt’s Schweinsbraten, Mohnstrudel und herrliche, gekochte Zwetschken und Birnen, sogar in Zucker gekocht. So ein Festessen gibt’s dann nur mehr im März, zu Vaters Namenstag (Josef), und es bleibt der einzige Namens- oder Geburtstag, der bei den Fockischen überhaupt gefeiert wird. An diesem Namenstag kriegen wir sogar jeder ein „Kracherl“, so eins, wo man die Kugel erst hinunterstoßen muß, damit sich’s öffnet.
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In den schweren Nachkriegszeiten wird es von Tag zu Tag schwieriger, die vielen hungrigen Münder zu ernähren. Es gibt ja fast nichts zu essen, oft sind die Frauen und sogar die Kinder ‒ obwohl es verboten ist ‒ die ganze Nacht für ein bisschen Milch oder ein Stückerl Fleisch (von den sogenannten Fleischbänken) angestellt. Da geht’s oft „mörderisch“ zu, im wahrsten Sinn des Wortes, wenn sich jemand einfach dazustellen will. Die erbitterten Frauen hätten an einer solchen Frau einmal fast Lynchjustiz geübt, wenn nicht ein Wachmann im letzten Augenblick eingegriffen hätte. Und wie oft geschieht es, daß nach kurzer Zeit die Ware „ausverkauft“ ist, für deren Erlangung man die ganze Nacht gestanden ist. Dann macht der Greißler den Rolladen zu, denn die erbitterte Menge glaubt nicht so ganz an das „Ausverkauftsein“ und sicher wird das meiste auch von hintenherum verkauft.
So muß man sich also nach neuen Erwerbsquellen umsehen, um auch ein wenig Geld zu verdienen. Auf dem Laaerberg gibt es riesige Schutthalden, wo die Anker-Brotfabrik manchmal halbverkohltes Maisbrot abladet und auch sonst so mancherlei Abfall abgeladen wird. Wir Kinder sind natürlich mit dabei, wenn aus diesen noch heißen Abfällen manchmal ein Stück nicht ganz verkohltes Brot zum Vorschein kommt, und es beginnt ein Wettgraben in dem Wust ringsum.
Eine weitere Geldquelle ist das „Koksstieren“. Man sammelt mit flinken Fingern die kleinen, nur halbverbrannten Stückeln, und unten am Rand der Halde steht der „Händler“ mit einer Waage und bezahlt einen geringfügigen Preis für dieses Brennmaterial aus zweiter Hand.
Im Winter steigt von diesen Halden sogar Gratiswärme auf, ein Wunder, daß sich noch keiner gefunden hat, der sie seinen Mitmenschen verkauft.
Das düsterste Kapitel punkto Lebensmittelbeschaffung ist das, wenn aus einem Tor, das zu den Ostbahngeleisen führt und sonst verschlossen ist, ein Straßenbahnzug mit Anhängern herausgeführt wird. Lange vorher erscheint eine ganze Abteilung berittener Polizei und nimmt Aufstellung entlang des Weges, den der Zug nehmen wird. Und auf der Straße steht die hungernde Bevölkerung und wartet auf ihre Gelegenheit, den Wagen (in voller Fahrt) zu erklettern und die noch halbwegs genießbaren Erdäpfel herunterzuschmeißen. Wir Kinder eignen uns zum Hinaufklettern natürlich besonders und sind, wie die Affen, blitzschnell in Position. Es ist aber gar nicht so einfach, zwischen den schon in Gärung befindlichen Kartoffeln noch ein paar eßbare herauszuklauben. Unten treten die Polizisten zur „Attacke“ an, um die Leute am Einsammeln zu hindern, und es kommt zu unbeschreiblichen Szenen und wilden Tumulten. Sicherlich muß man die Leute daran hindern, sich an den wahrscheinlich bereits giftigen Erdäpfeln Gesundheit und Leben zu gefährden, aber daß man es so weit hat kommen lassen, dieses lebenswichtige, kostbare Nahrungsmittel erst verderben zu lassen, das geht über die Vorstellungskraft der Leute. Vielleicht hat hier irgendein Spekulant und Kriegsgewinnler ‒ wie man damals sagte ‒ seine Hand im Spiel gehabt.
Zum Glück für uns kann die Mutter doch von Zeit zu Zeit bei ihren Verwandten in Mähren ein bisserl was erarbeiten und uns so vor der ärgsten Not bewahren.
Eines Tages kommen Hilfszüge aus Amerika und bringen für uns Kinder die berühmte „Amerikanische“. Es gibt Kakao und Riesenbuchteln und süße Milch. Ein Stückerl von der Mehlspeis kann man unter der Schürze hinausschwindeln, obwohl man kontrolliert wird, denn man muß alles innerhalb der Baracke aufessen.
Dann gibt es auch noch die „Wärmestuben“, wo man Einbrennsuppe und ein Stück Brot bekommt. An manchen Glückstagen ergattert man sogar ein Scherzel.
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Die Toni ist heuer aus der Schule ausgetreten und hat sofort einen „Dienstplatz“ bekommen. Und zwar ist das niemand Geringerer als die Familie vom Schuldirektor. Die Mutter hat das in die Hand genommen, und die Toni ist nicht viel gefragt worden, ob es ihr paßt oder nicht. Seit drei Tagen ist sie also jetzt „außer Haus“ und heult sich vor Kummer und Heimweh die Augen aus. Die Mutter beordert mich als „Seelentrösterin“ zu ihr, und ich rücke also an einem Nachmittag dort ein, um eine Nacht mit ihr zu verbringen und ihr die Angst vor den fremden Leuten zu nehmen. Es ist eine Zweizimmerwohnung, gleichfalls in der Gundrunstraße, nur ungefähr eine Viertelstunde von uns entfernt. Die Toni fällt mir sofort schluchzend um den Hals und schwört, keine Stunde länger hierbleiben zu wollen und lieber nach „Amerika“ auszuwandern. Was ich zu sehen krieg ist triste genug. In der Küche hat man ihr auf dem Fußboden ein Nachtlager bereitet, das ich nun diese Nacht mit ihr teilen soll. Die „Gnädige“ ist ziemlich ungnädig, daß man ihr noch ein zweites Balg (zur Kontrolle) geschickt hat und das Ende vom Lied ist, daß die Toni am nächsten Tag wieder im Schoß der Familie landet. Dabei ist sie sonst eh eine, die sich nix gefallen läßt, besonders wenn man sie „reizt“ und ihr nichts zu essen gibt, wie an ihrem nächsten Posten. Sie ist ein mageres Mädchen (später hat sie eine prachtvolle Figur) und hat mit ihren vierzehn Jahren kaum viel Kraft, um für einen Haushalt von 3 Personen ‒ Vater, Mutter, halbwüchsiger Sohn ‒ die Wohnung in Schuß zu halten und jede Woche einen „Waschtag“ zu haben, an dem sie mit dünnem Tee und Margarinebrot gefüttert wird. Die „Herrschaft“ läßt sich natürlich nichts abgehen. Eines Tages hat die Toni am Nachmittag glücklich die Wäsche aufgehängt und kommt müde und ganz „aufgeweicht“ in die Küche, in der es lieblich nach gebratenem Gansl richt. Das Stimmungsbarometer steigt demzufolge um einige Grade, weil sie sich für den Abend eine Beteiligung am „Festmahl“ erwartet. Doch davon kann keine Rede sein, für sie gibt es neuerlich den dünnen Tee mit dem obligaten Margarinebrot und als „Aufputz“ einen sauren Hering. Die Verbitterung ist groß, und es kommt zu einer dramatischen Entladung. Wie die Gnädige die Küche betritt, in Galakleidung für die zu erwartenden Gäste, stellt die Toni sie von wegen Hering statt einem Stückerl Gans zur Rede. Madame ist indigniert und nennt sie ein undankbares Geschöpf, dem man gnadenhalber Quartier und Nahrung gibt, worauf die Toni den Hering packt, ihn der „Gnädigen“ zweimal um Mund und Wange schlägt und stehenden Fußes das „gastliche“ Haus verläßt. (Ich glaube, im Unterbewußtsein habe ich seit damals eine Ader, Bedienerinnen oder wie man sie heutzutage nennt, Raumpflegerinnen, besser zu verköstigen als mich selbst, was mein Mann oft genug mit leichtem Spott kritisiert.)
Mein Bruder Franzi hat mich, obwohl er nicht allzu viel Gehalt als kleiner Beamter hatte, vor dem Schicksal eines Dienstmädchens bewahrt, indem er mich auf seine Kosten eine zweijährige Handelsschule besuchen ließ. Dadurch konnte ich später einen Posten in einem Büro bekommen, in dem ich zwar auch „Aufräumarbeiten“ zu verrichten hatte, aber doch als „freier Mann“ am Abend den Dienstplatz verlassen konnte. Doch soweit bin ich noch nicht auf meinem jungen Lebensweg.
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Wenn die Mutter Waschtag hat, müssen wir am Vorabend in die Waschküche und dort alles für den kommenden Morgen herrichten, besonders die Wäsche „einweichen“ und den Kessel füllen, sowie die Herdstelle zum Unterzünden vorzubereiten. Dabei müssen wir immer an dem Keller vom Herrn Pfeiffer vorüber, der täglich am Nachmittag in seinem Keller „arbeitet“. Keine von uns Mädchen würde allein an seiner Kellertüre vorübergehn, denn er versucht immer, eine von uns zu erwischen. Schreiend laufen wir zur rettenden Waschküchentür und sperren sofort von innen zu. Auch in den Keller um Koks traun wir uns nicht allein. Der Herr Pfeiffer hat einen Schnurrbart wie ein Feldwebel und ist feist und vielleicht 50 Jahre alt. Uns kommt er vor wie ein Affe im Urwald, wenn der die Arme ausbreitet und eins von uns festhalten will. Zuhaus haben wir noch nie etwas darüber gesagt, solche Sachen machen wir in der Gemeinschaft ab.
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Zu Pfingsten hat uns die Mutter von der Frau Pardon ‒ das ist eine sehr feine Frau aus Frankreich ‒ zwei sehr schöne, geblumte Kleider ausgeborgt und wir dürfens den ganzen Tag anbehalten und damit auf den Laaerberg ‒ genannt der böhmische Prater ‒ gehen. Dazu gehören für die Lintschi und mich je eine braune Haarmasche. Im böhmischen Prater gibt’s Ringelspiele, ein kleines Riesenrad und als besondere Attraktion die „Kaffeemühle“, ein Gehäuse für zwei drei Kinder oder Erwachsene, in die man einsteigt und die sich schneller und immer schneller zu drehen beginnen, bis man nimmer weiß wo links und rechts ist. Mir wird jedes Mal schlecht, wenn ich damit fahre, aber die andern geben keine Ruhe, bis ich’s dann doch tu und zum Schluß glücklich den Kaffee von der Jause und auch sonstiges Zubehör dem heiligen Ullrich geopfert hab.
An diesem Pfingstsonntag gehen wir also stolz und schön geschmückt durch die Gassen und zwischen den diversen Belustigungsbuden, als plötzlich ein paar Mädchen aus der Thavonatgasse daherkommen und mir und der Lintschi blitzschnell unsere Maschen vom Kopf reißen und damit davonrennen. Die eine hab ich von der Schule her gekannt, und ich weiß auch, wo sie wohnt. Heulend kommen wir nach Haus und erzählen der Mutter, was geschehen ist. Am nächsten Tag geht die Mutter in die Wohnung des Mädchens, doch die leugnet und sagt, saß sie selber so eine braune Masche hat und ihre Mutter bestätigt es. Meine Mutter weiß ganz genau, daß es gelogen ist, doch sie kann es leider nicht beweisen, und so muß sie seufzend die Geldbörse aufmachen und der Frau Pardon die beiden Maschen ersetzen. Im Geschäft von der Frau Pardon gibt es alles, was sich ein Mädchenherz wünschen möchte, die Mutter kauft dort schon viele Jahre ‒ auf Raten natürlich. Jeden Freitag, wenn der Vater das Geld heimbringt ist ihr erster Weg dorthin, um ihre Verbindlichkeit zu erfüllen. Nicht selten sagt die Lintschi, daß sie mitgeht, weil sie hofft, daß ihr die Mutter etwas kauft. Neben dem Geschäft von der Frau Pardon, die selbst 2 hübsche Mädchen hat, ist das Geschirrgeschäft vom alten Herrn Fiala, der etwas aufgeschwemmt wirkt und keine Wimpern hat. Aber dafür riecht es dort herrlich nach Kaffee, den er führt und von dem die Mutter hin und wieder eine kleine Menge kauft, die dann auch gleich dort gerieben wird. Dann kriegen wir ein Zuckerl vom Herrn Fiala und die Mutter ersteht vielleicht auch noch ein Häferl, weil ja dauernd etwas zerschlagen wird. Wie ich ein Säugling war, ist die Mutter auch einmal zum Herrn Fiala gegangen und hat die Mizzi und die Toni dazu beordert, auf mich aufzupassen. Ich bin auf dem Speiskastel in der Küche gelegen und durfte strampeln. Die Beiden haben aber grad Perlen aufgefädelt und sind ein bissel in Streit geraten dabei. Plötzlich hat’s einen Plumpser gegeben, und ich bin mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden gelegen. Angeblich soll ich gar nicht geschrieen haben. Die Zwei sind natürlich furchtbar erschrocken, haben sich aber nicht getraut, der heimkehrenden Mutter meinen Unfall zu beichten. Seiher hat es später oft geheißen, ich sei auf den Kopf gefallen.
Weil gerade vom „auf den Kopf gefallen“ die Rede ist: wie ich in die zweite Klasse gegangen bin, ist mir eines Tages bei unserer Wohnungstür die gesamte Stuckatur auf den Kopf und auf die Schultern gefallen. Immer wieder hat die Mutter geschimpft, wenn die Kinder die Türe zugeschlagen haben. Und dann bin halt eines Tages ich zum Handkuß gekommen. Es war ein ziemlicher Schock, und ich mußte sofort ins Bett, aber ich habe auch das ohne „sichtbaren“ Schaden überstanden. Mein Vater hat damals gemeint, ich hätte nicht nur einen, sondern mehrere Schutzengel gehabt.
Im Sommer, wenn das Getreide abgeerntet ist, fahren wir Kinder nach Raasdorf zum „Ährenklauben“. Wenn man barfuß ist, ist das eine etwas schmerzliche Sache, denn die Stoppeln tun auf der Sohle ganz schön weh, wenn man stundenlang drauf spazieren geht. Zum Ausgleich kraxeln wir auf so manchen Kirschbaum, auf dem noch die kleinen, zuckersüßen Vogelkirschen hängen. Dazwischen treiben wir uns auf irgendeinem Bauernhof herum, springen von der Tenne ins Heu hinunter und fühlen uns in unserem Element. Das aufgeklaubte Getreide röstet die Mutter für Kaffee, wenn’s wo ein bisserl Weizen gibt, kriegts das Punzerl.
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Wie ich 10 Jahre alt bin, werden wir von der Schule auf Ferienaufenthalt in die Schweiz verschickt. Die Linitschi kommt nach Holland, von wo sie sich die Liebe zu den Tieren mitgebracht hat. Wir haben alle ein Taferl umgehängt, auf dem unsere Namen und Adressen vermerkt sind und der Ort, wo wir später „abgegeben“ werden sollen. Ich komme nach Eriswil, von dort geht es mit einer Zweigbahn nach Hutwil, wo mich die „Familie“ von der Hedi miterwartet, denn meine Leute haben anscheinend an dem Tag keine Zeit. Die Hedi ist nach einer ziemlichen Wegstrecke entlang eines Baches bald am Ziel und ich sehe mit Bangen und Herzklopfen den nächsten Ereignissen entgegen. Die Pflegemutter von der Hedi kredenzt uns beiden ein Häferl warme Milch und ein herrlich schmeckendes Stück Brot dazu. Plötzlich ist da ein Bub in meinem Alter, der vom Berg heruntergekommen ist und mich abholen soll. Doch ich hab schreckliche Angst und bin nicht zu bewegen mit dem Willi, wie er heißt, mitzugehen und so entschließt man sich also, mich diese Nacht mit der Hedi noch in einem Bett schlafen zu lassen und mich erst am nächsten Morgen abzuholen. Fest umschlungen haben wir uns in den Schlaf geweint und erst in der Frühe, als die Sonne scheint, sind wir nicht mehr ganz so unglücklich. Die Hedi darf mich im Laufe des Tages besuchen kommen ich trotte also hinter dem Willi her, die steile Wiese hinauf. Oben ist ein schönes Gehöft und davor stehen 2 ältere Frauen und ein ebensolcher Mann, der sich auf einen Stock stützt und ein steifes Bein hat. Er lächelt mich an, während die beiden Frauen etwas ernst, vielleicht ein bisschen vorwurfsvoll mich in Empfang nehmen. Es stellt sich heraus, daß es fünf Geschwister sind, drei Schwestern, davon die zwei hier lebenden unverheiratet, ebenso die beiden Brüder. Eine dritte Schwester ist Witwe und die Mutter vom Willi der hier lebt, während sie in einer anderen Ortschaft wohnt und auch einen Beruf ausübt. Man führt mich in ein kleines Kammerl, wo es nach Äpfeln und Brot riecht. Zu Mittag kommt dann auch noch der zweite Bruder, und es gibt (nach einem Tischgebet) Rösti und herrliche Milch dazu. Der Onkel mit dem steifen Bein schaut mich manchmal freundlich an, und auch die Anderen tauen langsam auf, ich selber auch. Allerdings muß die Hedi wiedermal bei mir schlafen, alles ist noch viel zu fremd und ein bisserl unheimlich für mich. Nach ein paar Tagen habe ich mich schon eingewöhnt und gehe mit dem Willi zum ersten Mal in den Wald und über Land. Ich lerne eine Menge Kinder kennen, sodaß ich auf die Hedi gar nicht mehr so angewiesen bin.
Etwas habe ich nie ganz verkraftet, und das ist einmal in der Woche der Weg zum Bahnhof, der wie schon gesagt endlos am Bach entlang führt. Es ist fast eine Stunde Weg und der Zug, mit dem die Tante kommt, ziemlich spät. So muß ich fast erst bei Eintritt der Dämmerung an einem Hornissennest vorbei gehen, wo die Biester sich noch im letzten Abendsonnenschein ergötzen, um dann in das Loch in der Wiese zu verschwinden. Es ist kaum einen Meter vom Weg, und auf der anderen Seite rauscht der Bach. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Am Wasser stehen allerhand Pflanzen und nehmen im Dämmergrau unheimliche Formen an, die mich vor Furcht erschauern lassen. Meine alte Angst vor Gespenstern überfällt mich wieder und ich laufe fast den ganzen Weg, bis ich endlich am Bahnhof bin. Zurück geht es ja in Begleitung der Tante. Ich habe nie begriffen, warum ausgerechnet ich und nicht der Willi seine Mutter abholen gegangen ist. Aber ich behalte meine Ängste für mich und zittere nur schon immer dem Abend entgegen, wo es wieder einmal so weit ist.
Einmal gehen wir in den Wald, um Beeren zu sammeln. Wir sind zu viert oder fünft und treiben allerlei Unfug. So bewerfen wir uns manchmal mit Tannenzapfen, und bei der Gelegenheit hebe ich einen solchen Zapfen, der an einem Baumstamm liegt auf und greife dabei mitten in ein Wespennest. Wütend umschwirren mich die Tiere und zwei oder drei erwischen mich und stechen mich in die Stirn. Das hat ganz schön weh getan. Der Willi hat sich als Kavalier und Samariter aufgespielt und mir kalte Kompressen auf die Dippln gelegt, damit’s nicht zu sehr anschwillt. Man sieht, mit dem Kopf hab ich’s immer schon gehabt.
Der Sommer geht rasch zu Ende, ich bin jetzt fast zwei Monate hier und möchte gar nicht wieder heimfahren. Aber eines Tages kommt auch dieser Zeitpunkt heran. Ich habe meinen „Pflege-Geschwistern“ von den Blodiceks erzählt, und daß sie noch weniger zu essen hätten als wir (Der Vater von den Blodiceks lebt mit einer anderen Frau zusammen und zahlt nur geringe Alimente, die Mutter geht arbeiten). Aber viel Einteilung hat die Frau Blodicek nicht. Denn am Ersten, wenn das Geld vom Vater kommt, wird drei Tage in Saus und Braus gelebt, danach wird alles wieder ins „Vrtz“ (Versatzamt) getragen. Das wiederholt sich jeden Monat. Doch ich möchte gerne etwas für die Leni und die Mizzi mitbringen und das geschieht auch. Es wird mir ein ganzer Sack voll mit Äpfeln, Schokolade, Marmelade und sonst noch allerlei mit auf die Reise gegeben und voll Stolz und Freude bringe ich’s den Blodiceks, kaum daß ich wieder zuhause bin, hinauf.
Die Lintschi redet nur mehr holländisch und ist kaum zu verstehen. Ich erinnere mich nur an ein: „es ist güd“. Doch der Favoritner Jargon nimmt sie bald wieder in seine Arme und nach einiger Zeit ist alles wie früher.
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Für mein Leben gern hätt ich Klavierspielen lernen wollen. Doch nicht nur, daß dazu in unserer Wohnung kein Platz gewesen wäre, hätte es finanziell nie dazu gelangt. Der Vater hat in seiner Militärzeit einige Instrumente beherrscht, jetzt spielt er manchmal noch ein wenig auf der Geige und vor allem Zither. Wir singen alle dazu, musikalisch wie die ganze Familie ist, und die Nachbarn betrachten es als unbedingten Gewinn und bitten uns, die Fenster offen zu lassen während unserer „Darbietungen“. Unsere Fenster gehen in einen schönen Hof, fast möchte ich sagen Garten, denn es stehen auch einige Bäume und ein „Salettl“ drin. Der Loisi, die Lintischi und der Zitterl Hansi bekommen vom Vater Geigenunterricht, zumindest die ersten Lektionen. Auch mir wäre es frei gestanden, gleichfalls mein Glück auf der Geige zu versuchen, doch das Gekratze und Gejammer, vor allem vom Zitterl Hansi, verleidet mir dieses Instrument gründlich. Später ‒ da war ich fast 15 ‒ ist der Brenninger Pepi, ein Freund vom Franzi, als Lehrer engagiert worden und der hat versucht, dem Loisi ein bissel was beizubringen. Der wollte aber nicht. Dieser Brenninger Pepi war ein „dämonischer“ Mensch ‒ wie der Paganini, dachte ich damals ‒ der sein Handwerk verstand und oft so ein paar Gustostückerln, wie den Kanari oder Teufelstriller oder auch die Toselliserenade zum Besten gab. Leider hat er ein Auge auf mich geworfen und hätte mir sogar „gratis“ Klavierunterricht erteilt (bei sich zu Hause), wenn ich die Seine geworden wäre. Ich denke, daß er dabei sogar ans Heiraten gedacht hat. Doch ich hab solche Angst vor ihm gehabt, daß ich lieber gestorben wär, als mich von ihm küssen lassen. Einmal hat er während der Stunde nach einem Glas Wasser verlangt, und mein Vater schickte mich darum. Ich stand in einer Ecke des Zimmers und war damit beschäftigt, das neueste Kapitel eines Romans zu verschlingen, den sich die Frau Zitterl abonniert hat. An dem Tag war gerade die Fortsetzung gekommen und ich durfte als erste lesen. Vertieft in die sich immer dramatischer zuspitzenden Ereignisse, hörte ich nur am Rande den Auftrag meines Vaters und sagt: „Ja, gleich“. Worauf mein Vater gar nicht freundlich reagierte und mir fast eine geklebt hätte. „Was liest du denn da überhaupt?“, fragt er und ich stammle: „Armes, blondes Hannerl“. Da laufe ich blutrot an, weil sich der Brenninger Pepi eines leicht maliziösen Lächelns nicht erwehren kann.
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Inzwischen hat sich der Gesundheitszustand des Vaters so verschlechtert, daß er „in Pension“ geschickt werden muß, und zwar mit nur 10 anrechenbaren Dienstjahren. Die Pension ist so winzig, daß es fast unmöglich ist, davon auch nur halbwegs mit 3 noch unversorgten Kindern zu leben. Ich gehe jetzt schon ein halbes Jahr in die Handelsschule und besuche auch noch nebenbei einen Stenographie- und Maschinschreibkurs, den der Franzi auch finanziert. Es sind bittere Zeiten für alle Leute, und wir können nichts, außer singen. Das bringt uns auf die Idee, in die verschiedenen Häuser singen zu gehen. Das tun andere Leute auch, sogar auf der Straße. Die beste Gelegenheit, damit anzufangen, sind die Weihnachtsfeiertage. Also wandern wir erst einmal nach Simmering und produzieren uns auf den langen, dichtbewohnten Gängen der Häuser. Und siehe da, es wird ein so durchschlagender Erfolg, daß wir zu Mittag mit vollen Taschen und beladen mit den herrlichsten Mehlspeisen zu Hause ankommen. Meine Muter ist begeistert, der Vater hat Tränen in den Augen. Von da an gehen wir fast täglich, nach der Schule und natürlich am Sonntag Vormittag, in die verschiedensten Gegenden. Die Leute fragen uns um unsere Eltern aus und sind voller Mitleid, der Loisi zieht auch sofort eine Schau ab und tut einiges dazu. Dabei sind wir draufgekommen, daß er sich immer ein wenig „Körberlgeld“ macht, das er sich im Klo, im Wasserkasten versteckt.
Wir werden von den Leuten eingeladen, immer wieder zu kommen, sodaß wir bald unsere Stammplätze haben. Meine Angst ist nur, daß ich einmal in ein Haus gerate, in dem eine Schulkollegin aus der Handelsschule wohnen könnte.
Die Mizzi ist bereits verheiratet und wohnt mit ihrem Mann auf dem gleichen Gang in einem Kabinett. Sie hat ein Mädchen, und der Adolf, der Maurer ist, hat nur im Sommer Arbeit.
Auch die Toni ist nicht gerade auf Rosen gebettet und mit einem Mann verheiratet, der einen Gurkenhandel betreibt. Das heißt, er legt in große Fässer Gurken und auch saure Fische ein und liefert an die verschiedenen Greißler. Aber er ist kein seriöser Mensch, denn er mischt in die diversen Gurkengläser allerlei Abfall und kann ein zweites Mal seine Ware im gleichen Geschäft nicht mehr verkaufen. Also geht er pleite. Wie oft sind wir mit dem „Fritzl“, einem mageren Klepper, dem die Knochen aus dem Körper standen mitgefahren und wie oft haben wir uns aus den großen Gurkenfässern eine der sauren Gurken herausgefischt. Dabei wär die Lintschi einmal fast in so ein Gurkenfaß hineingefallen.
Die Mizzi hört von unseren großen Erfolgen mit der Singerei und beschließt zusammen mit der Toni auch ihr Glück zu versuchen. Als große Tragödin vor dem Herrn legt sie sich eine rührselige Geschichte zurecht und säuselt ihre Lieder, wie: „Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß…,“ daß die Toni manchmal das Lachen nicht unterdrücken kann und sie allein weitersingen läßt, bis die arme Mizzi endlich auch aufhören muß und der lachenden Toni empört und beleidigt auf die Straße hinaus folgt.
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Weil ich doch viel länger Schule hab als die Lintschi, kriege ich manchmal 5 Deka Extra- oder Dürrewurst ins Brot mit. Die Lintschi findet das gar nicht in der Ordnung und verfolgt mich auf meinem Weg zur Straßenbahn mit wilden Reden, während sie mit kleinen Steinen nach mir wirft. Ich geniere mich furchtbar, denn die Leute schauen und wissen nicht, warum die Lintschi dauernd sagt: „Geh, gib mir’s!“, wobei sie die Wurst meint, die nach ihrer Meinung ihr zustehen sollte, nicht mir. Endlich kann ich in die Straßenbahn einsteigen und atme erlöst auf.
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Augenblicklich hab ich einen „Kinokoller“. Und da geh ich manchmal in die erste Abendvorstellung. Natürlich bin ich für einen sogenannten „Sittenfilm“ noch zu jung und wenn der Billeteur fragt: „Bist du schon 16?“, piepse ich: „Ja“ und schau’, daß ich mich schnell unter das Publikum mische, damit er mich nicht doch noch hinauswirft. Zum Zweck der Tarnung meiner 15 Jahre ziehe ich mir eine Jacke von der Toni an und stecke mir das Haar ‒ wie die Erwachsenen ‒ zu einem Knoten. Sogar einen Hut hab ich in meiner Kinogarderobe.
Und dann sitz ich beglückt und erwartungsvoll im Dunkeln und erlebe die schönsten Liebesgeschichten mit der Pola Negri oder Asta Nielsen oder wer sonst noch damals ein großer Star war. Es ist Doppelprogramm, anschließend gibt’s einen Wildwestfilm, aber es heißt pünktlich wieder zuhause sein, denn offiziell bin ich im Stenographiekurs. So verlasse ich also das Kino vorzeitig und verstaue sorgfältig meine Utensilien an einem nur mir bekannten Ort.
Die Mizzi, die mich augenblicklich nicht leiden kann, scheint mir draufgekommen zu sein, daß ich hin und wieder den Kurs geschwänzt hab, denn sie hat mir die Lintschi als „Spion“ nachgeschickt und die berichtet dann der Mutter von meiner Sünde. Wie ich an diesem Abend heimkomme, liegt die Mutter schon im Bett und die Mizzi liegt in dem meines Vaters, der damals gerade Nachtschicht gehabt hat. Ich zieh mich leise im Dunkeln aus und will unter meine Decke schlüpfen, da steht meine Mutter vor mir und gibt mir links und rechts eine saftige Ohrfeige. Die Mizzi hetzt mit bösen Worten und ist anscheinend mit den zwei Ohrfeigen noch nicht ganz zufrieden. Ich schaue meine Mutter ganz entsetzt an, denn ich finde die Art, wie man über mich hergefallen ist, nicht unbedingt fair. Hätte man mich gefragt, ich hätte wahrscheinlich die Wahrheit gestanden.
So aber liege ich noch lange wach und kann mich nicht genug kränken. Ich glaub, die Mutter war auch nicht ganz glücklich dabei, nur die Mizzi.
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