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Der Cheder war so eingerichtet, wie heute noch in Halbasien.
Der Rebbe (Lehrer) war nichts weniger als ein geschulter Pädagoge, vielmehr in der Regel ein älterer, gescheiterter Kaufmann. In dessen Wohnzimmer, wo sich auch seine Frau und die gewöhnlich zahlreiche Familie aufhielt, waren — je nach Beliebtheit, Bedürftigkeit oder nach den Verwandtschaftsverhältnissen des Rebbe — zwölf bis achtzehn Knaben verschiedenen Alters und ungleicher Wissensstufen gleichzeitig anwesend.
Je nachdem es die Stundeneinteilung der deutschen Trivialschule zuließ und je nach dem Alter und den Fortschritten der Schüler wurden täglich vor- und nachmittags durch zwei bis drei Stunden Chumesch (Bibel), Dikdik (Grammatik), Psalmen, die Propheten und Gemarah (Talmud (s.Anm.21)und Mischna) vorgetragen und geprüft, d.h. während des Vortrages für die eine Abteilung memorierte die andere und so vice versa. Es ging hiebei recht lebhaft und laut zu. Der Mißklang so vieler Stimmen läßt sich nicht gut schildern, es hieß wohl „wie in einer Judenschul“, aber mit Unrecht, weil in vielen nichtjüdischen Schulen beiläufig ähnliche Zustände herrschten.
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Unser damaliger Rebbe war ziemlich schwerhörig und es bedurfte nicht geringer Stimmittel, um sich ihm verständlich zu machen und, da schwerhörige Leute in der Regel mißtrauisch und reizbar sind, so spielte der Stock keine untergeordnete Rolle in seiner Hand.
Weil er es bei der Züchtigung zu arg trieb, kam ich zu Beginn eines neuen Semesters (nach Pessach oder Sukkaus) am nächsten Rauschchaudesch (d.i. dem Wendetag des Sommer-, beziehungsweise des Winterkurses) zu einem anderen Rebbe.
Hier herrschten ähnliche Zustände und so kam ich im nächsten Semester zum früheren Rebbe zurück, denn eine weitere Auswahl gab es nicht.
Derartige Übertritte aus einem Cheder in den andern sind mit einem Aufsteigen aus der niederen in die nächsthöhere Klasse in der Gegenwart nicht zu vergleichen.
Jeder Rebbe hatte ein von seinem Konkurrenten ganz verschiedenes, aus einem ganz anderen Milieu stammendes Schülermaterial.
Die Gegenstände waren überall dieselben und nur die Unterrichtsmethode und der Charakter des Rebbe waren verschieden; der wieder zurückgekehrte Schüler wurde wie der aus der Fremde heimkehrende verlorene Sohn betrachtet.
Daß ich unter solchen Verhältnissen den Cheder unter verschiedenen Vorwänden oft schwänzte, wird man begreiflich finden; aber der Mißbrauch rächte sich einmal.
Ich hatte zufällig empfindliche Zahnschmerzen; man hielt sie für simuliert und erst nach drei schlaflosen Nächten schickte man mich zum Pseudo — das ist ein nicht graduierter Zahnarzt. Als solcher existierte damals am Oberring ein wohlhabender Bürger namens Groß, welcher als Empiriker sehr geschickt war und aus Liebhaberei unentgeltlich Zähne zog.
Wegen des Sabbats begleitete mich niemand. Das Unglück wollte, daß der Zahnarzt bei meinem Eintritt gerade Schweineschlachten hatte! Mein Schmerz verlor sich fast gänzlich aus Angst, daß mir der Arzt mit seiner „trefenen“ schmierigen Hand in meinen „koscheren“ Mund fahren und den Zahn ziehen werde! Es half jedoch nichts, der Herr Groß zog mit der blutigen Hand den Zahn und da ich aus Scham nicht „ojweh“ sondern nur „Ah“ schrie, so sagte er: „Be, da ist der Zahn.“
Der gezogene Zahn war gar nicht kariös, es dürfte sich bloß um eine Beinhautentzündung gehandelt haben. Nichtsdestoweniger wurde der gesunde Zahn gezogen, denn der Dilettant verstand sich nur aufs Zähneziehen.
Von selbst herausgefallene Zähne wurden in ein Mauseloch geworfen (Dr.Fürst); ebenso wurden abgeschnittene Nägel und Haare verbrannt, weil es ein religiöses Gebot war, jeden vom menschlichen Körper herrührenden Bestandteil aus sanitären Gründen nicht herumliegen zu lassen.
Lockere, d.h. wackelige Zähne zogen wir Knaben uns gegenseitig ohne viele Umstände. Man umwickelte den Zahn mit Hanfzwirn, befestigte diesen an der Türklinke und ließ sie von Kameraden anziehen, je nachdem die Tür nach innen oder nach außen zu öffnen war, oder der hilfsbereite Kollege stellte sich auf den Tisch und hob den Patienten in die Höhe, wodurch sich der lockere Zahn loslöste.
Sämtliche derartige Extrahierungen waren gratis; sie beruhten auf Gegenseitigkeit.
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Bei diesem Anlaß erinnere ich mich an eine Episode aus der Neuzeit.
Als die Genossenschaften ins Leben gerufen wurden, entstand die Frage, welcher Behörde die Zahnärzte unterstehen sollen? Ein humoristischer Gewerbeinspektor meinte, der Unterrichtsbehörde, weil die Tätigkeit der Zahnärzte erzieherischer Natur sei, da die Patienten als „ungezogene“ Leute zu ihnen kommen und als „wohlgezogene“ weggehen.
Er blieb jedoch mit seinem Antrage in der Minorität in Berücksichtigung des Umstandes, daß die sogenannten amerikanischen Dentisten ein lateinisches Studium nicht absolvieren mußten und so sollen angeblich sämtliche Zahntechniker in die Kategorie der „handwerksmäßigen Gewerbe“ eingereiht und dem Arbeitsministerium unterstellt worden sein; si non è vero, è ben trovato.
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Zu den Naturärzten hatte man damals in vielen Fällen größeres Vertrauen als zu den graduierten Doktoren: so gab es im nahen Dorfe Cekin einen Schäfer, welcher veraltete Beinbrüche heilte und im Dorfe Moschtienitz eine alte Bäuerin, welche nach flüchtiger Besichtigung des in einer Flasche mitgebrachten oder ihr eingesandten Urins, also ohne Analyse, interne Leiden kurierte. Sie hatten enormen Zulauf wegen des günstigen Heilerfolges und weil sie so vorsichtig waren, kein Honorar zu verlangen.
Eine freiwillige Spende verschmähten sie jedoch nicht nach dem alten Spruche: „Praesente medico nihil nocet“, welcher in freier Übersetzung lautet: „Präsente schaden dem Arzte nicht.“
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Vor dem Jahre 1848 gab es in der Prerauer Judengemeinde nur einen jungen, vor kurzem graduierten medicinae-Doktor namens N. und einen älteren, praktischen Arzt, einen sogenannten Wundarzt, d.i. ein Mann, der nicht an einer medizinischen Fakultät studiert hatte, namens Zerkowitz.
Der Erstere war infolge seines Doktor-Diploms derart von sich eingenommen, daß er zu keinem Patienten ging, der vorher den Arzt Zerkowitz, welcher ein hervorragender Diagnostiker war, konsultiert hatte. Der Arzt konnte sich deshalb nicht erhalten und mußte nach seiner Vaterstadt Leipnik zurückkehren.
Derartige Fälle von Borniertheit, bezw. eingebildeten Stolzes sollen auch in der Jetztzeit hie und da vorkommen!
Im Laufe der Jahre wurde der vorstehend genannte Doktor trotz seines rauhen Wesens von milderer Gesinnung und stand im Rufe, einer der größten Menschenfreunde zu sein. „Nur ein guter Mensch kann ein guter Arzt sein.“ (Nothnagel)
Er sandte während seiner fast sechzigjährigen Praxis keinem Patienten eine Rechnung und war mit dem geringsten Honorar zufrieden. Bei seinem Ableben im Alter von 96 Jahren waren die Vermögensverhältnisse tatsächlich recht ungünstig.
Um dem großen Ärztemangel, unter welchem besonders die kleinen Städte und die Landbevölkerung litten, abzuhelfen, errichtete Kaiserin Maria Theresia auf Anraten von van Swieten sogenannte medizinisch-chirurgische Lehranstalten (z.B. in Olmütz, Salzburg usw.). In diese konnten junge Leute nach Absolvierung von vier Lateinklassen eintreten und wurden nach drei Jahren mit dem Titel eines Wundarztes approbiert.
Wenn ein junger Mann drei Jahre bei einem approbierten Wundarzt — in der Regel Inhaber einer Rasierstube, in welcher auch Aderlässe, Schröpfungen, Igelaufsetzen und kleine chirurgische Operationen vorgenommen wurden — als Heilgehilfe mit gutem Erfolge verbracht hatte, so konnte er auch ohne Absolvierung der vier Lateinklassen direkt in die medizinisch-chirurgische Lehranstalt aufgenommen werden.
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„Vergebens, daß Ihr ringsum
wissenschaftlich schweift,
ein jeder lernt nur, was er lernen kann.“
(Goethe)
Da der Unterricht im Cheder meinem gottseligen Vater nicht genügte, so lernte ich bei ihm dieselben Gegenstände wie im Cheder, nur stellte er höhere Anforderungen an mich. Lernte ich im Cheder Dikdik (Anfänge der Grammatik), so studierte ich bei ihm Talmud Loschaun-Iwri (Höhere Grammatik und Chrestomathie); tradierte man im Cheder Mischnajot, so lernte ich zuhause aus der Gemarah usw. Ich besaß auf diese Weise ein vielseitiges Wissen; ich selbst fand jedoch keine innere Befriedigung, denn der Unterricht war unsystematisch und dazu war ich sehr überbürdet.
Kurze Zeit hatte ich Abwechslung in dem monotonen Cheder-Unterricht, indem ich zweimal in der Woche Violinstunden bei dem Volksschullehrer Kobliha in der Vorstadt Schirschawa nahm, in Gemeinschaft mit einem Kollegen Pr., dessen Eltern im nächstgelegenen Dorfe Ujezd wohnten. Aus einer geringfügigen Ursache ging unsere Freundschaft in die Brüche; die besten Freunde werden ja oft die bittersten Feinde!
Er drohte mir auf dem einsamen Rückweg mit tüchtigen Schlägen — er trug deshalb einen Knüppel im Stiefelschaft — und wegen meiner berechtigten Angst, da er ein kräftiger, massiger Dorfjunge war, und weil der Lehrer Kobliha keine Zeit hatte, den Unterricht in der Wohnung meiner Eltern zu erteilen, mußte ich zu meinem Leidwesen aufhören; denn ich hatte Sinn für Musik. „Musik ist ja eine unsagbare und unermeßliche Trösterin!“ (Sinnspruch der ehemaligen Kammersängerin Frau Karoline von Gomperz-Bettelheim)
Kleine Ursachen, große Wirkungen!
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Nach dem Abendbrot mußte ich bis 9 Uhr nachts wiederholen; am Morgen saß ich bereits von 5 einhalb Uhr angefangen bis halb 7 beim Studiertisch und war froh, wenn um diese Zeit das Schulklopfen im Vorhaus ertönte.
Da die Juden auf ihren Synagogen Glocken nicht haben dürfen, um den Beginn der Gottesdienste anzukündigen, so klopfte in damaliger Zeit der Liberer an Wochentagen mit einem hölzernen Hammer — ähnlich einer größeren Kinderklapper — in jedem jüdischen Vorhaus je mit einem langen und zwei kurzen Schlägen zum Morgen- bezw. Abendgottesdienst 1).
Wenn er nur zweimal dumpf mit dem Hammer aufschlug, so bedeutete dies zugleich einen Todesfall in der jüdischen Gemeinde.
Der Liberer mußte selbstverständlich auch die Synagoge öffnen und schließen. Vor dem Öffnen klopfte er dreimal an die große Eingangstüre, damit — nach einer älteren Legende — die Geister (Schedim) sich verflüchtigen.
Am Samstag und Feiertag rief — an Stelle des Liberers — der Schames in jedem jüdischen Vorhaus mit lauter Stimme: „Zu Schachrit“, „Zum Mussaf“ oder „Zum Mincha!“
In gegenwärtiger Zeit ist man viel praktischer; der Beginn des Gottesdienstes an Werktagen, am Sabbat und am Feiertag wird durch eine in der Vorhalle der Synagoge angebrachte Ankündigungstafel ersichtlich gemacht.
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„Wer sein Kind liebt, züchtigt es.“
(Sprüche Salomos, K.13, V.24)
Jeden Sabbat, eine Stunde nach beendigtem Schachrit-Gottesdienste, wurde ich in Gegenwart des Rebbe, welchem stets Kolatschen und Likör vorgesetzt wurden, aus sämtlichen Gegenständen geprüft, welche ich im Laufe der Woche bei ihm gelernt hatte.
Entsprach ich den Anforderungen des Vaters, so wurde mein Fleiß im Cheder als eine selbstverständliche Sache betrachtet, entsprach ich nicht, so war die handgreifliche Zurechtweisung noch von beiläufig folgender Ansprache begleitet: „Es ist kein Wunder, daß du nichts gelernt hast, wenn man so viel herumläuft wie Hans Dampf in allen Gassen (eine Figur aus einem damals vielgelesenen Buche von Zschokke), auf alle fremden Bäume klettert, überall Fenster einschlägt (der jüdische Glasermeister Spitz schrieb jede durch ein Blasrohr durchlochte Scheibe, wenn der wirkliche Täter nicht eruierbar war, mir zu, weil er wußte, daß meine gütige Mutter sie ohne weiteres bezahlen werde, damit er nicht zu Schaden komme) und dabei ein Feinschmecker ist, usw., kann es ja nicht anders sein!“
Der Vorwurf eines Feinschmeckers bezog sich darauf, daß ich einmal in Abwesenheit des Vaters beim Mittagstisch „Linsen“ schmollend verschmähte, weil ich — es war Rauschchaudesch, der Neumondstag wurde als Halbfeiertag betrachtet — eine an diesem Tage übliche bessere Speise erwartet hatte.
Die gottselige Mutter kurierte mich jedoch ein für allemal von dieser Feinschmeckerei-Anwandlung, indem ich bei den drei folgenden Mahlzeiten nur Linsen als Zuspeise erhielt, die mir der Hunger endlich mundgerecht machte. Seit damals habe ich tatsächlich mehr Vorliebe für einfache Speisen als für Leckerbissen.
Der gottselige Vater interessierte sich fast bis an sein Lebensende für den jüdischen Unterricht der Jugend. Als seine Söhne nicht mehr in Prerau studierten, prüfte er jeden Samstag Nachmittag viele fremde Knaben in seiner Wohnung. Bei einer solchen Prüfung soll er einem Knaben (er lebt gegenwärtig als Großindustrieller in Olmütz), welcher sein Pensum nicht gut gelernt hatte, gesagt haben: „Mein Kind, wenn du mein Sohn wärest, würde ich dir die wohlverdiente Tracht Prügel geben.“
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Um den schädlichen Folgen des Schopfbeutelns vorzubeugen, welches Hilfsmittel ich bei der Unterrichtsmethode des Rebbe anzuführen vergessen habe, duldete der Vater bei keinem seiner Söhne langes Haupthaar. Wir trugen stets eine echte Fiesco-Frisur und mußten auch deshalb jeden zweiten Monat, besonders aber an Rüsttagen der drei Hauptfeiertage, unsere Köpfe der Schere des Hauptfriseurs, des sogenannten Prerauer Haby 1), d.i. „des Draben“ überlassen.
Dieser Drab war ein ausgedienter Korporal, mit welchem man sich in Berücksichtigung seiner einflußreichen Stellung als exekutives Organ und rechte Hand des Oberamtmannes gerne verhielt und welchem man deshalb das große Honorar von drei Kreuzern per geschorenem Kopf bezahlte!
Da ich die Aversion des Vaters gegen langes Haar kannte, so ließ ich mir, als ich das erste Mal aus der Jeschiba zu den Pessachfeiertagen nach Hause kam, knapp vor der Heimreise das Haar ganz kurz schneiden. Der Zufall fügte es, daß bei meinem Eintritt in die elterliche Wohnung der Drab in voller Tätigkeit war und so meinte der Vater, ich möge dessen Anwesenheit benützen und mein etwas langes Haar „scheren“ lassen.
Ich hatte somit eine zweimalige „Bescherung“ innerhalb weniger Stunden, wodurch mein Kopf ratzekahl wurde: ich war sehr froh, daß nach damaliger Sitte die Glaubensgenossen sich nur mit einer Neigung des Kopfes grüßten, ohne die Mütze oder den Hut dabei abzunehmen.
Ein Sprichwort sagt: „Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen.“
War es die Rücksicht auf die prominente Stellung des Vaters als Towhakahal und als Vorsteher des Jugendbundes oder geschah es, daß ich den Altersgenossen imponierte oder bei ihnen beliebt war, ich wurde von allen — selbst von jenen aus den anderen zwei Cheders — zum Vorsteher gewählt. Jeden Samstag nachmittags von 1 bis 2 Uhr hielten wir unseren Mincha-Gottesdienst ab, in dem im ersten Stock separat gelegenen Eckzimmer des Kollegen Jausep Meyer, woselbst der Sohn des Chasan Wolf das Vorbeten und das Vorlesen aus der Miniatur-Seferthora besorgte. Diese hatte der Sohn des Sofers (Thoraschreibers) eigenhändig geschrieben und dann gespendet. Aus dieser Ursache wurde ihm auch stets der erste Mischeberach gemacht.
Die Thora, aus welcher in der Synagoge die Wochenabschnitte vorgelesen wurden, durfte nicht als Druckwerk hergestellt werden; sie wurde, gleich den Inschriften der Tefillingehäuse von jüdischen Berufsschreibern auf Pergamentrollen in jüdischer Quadratschrift mit Tusch sehr sorgfältig geschrieben; der geringste Schreibfehler machte sie für ihre Zwecke ungiltig.
Es wurden drei Knaben aufgerufen, nachdem man vorher die Alijahs und das Hagboh, sowie das Gelilah (Heben der Thora vom Vorlesepult und Zusammenrollen derselben) verlizitiert hatte.
Zur Bestreitung der geringen Auslagen wurde am Chalhamaued Pessach die Steuer umgelegt, analog wie bei den Balbatim (Scari). Sie betrug je nach dem Taschengelde, welches jeder Knabe von seinen Eltern erhielt, ein bis drei Kreuzer pro Woche; arme Kinder gaben Hosenknöpfe.
Das Inkasso besorgte der Sohn des Schames Awrom Wolf. Wie lange dieser „Knabenstaat neben dem Gemeindestaate“ dauerte, weiß ich mich nicht mehr zu entsinnen.
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Jeden Samstag nachmittag wurde ich von drei bis vier Uhr aus dem Deutschen geprüft. Das Lesen vom Blatt war der erste Prüfungsgegenstand.
Es ist mir erinnerlich, daß ich damals aus der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“, welche s.Zt. fast die einzige in Österreich behördlich gestattete ausländische politische Zeitung war, die Schilderung des großen Hamburger Brandes vorgelesen habe. Es dürfte dies im Jahre 1842 gewesen sein.
Die Zeitung kam, weil im Subabonnement, in der Regel erst 8 bis 14 Tage nach Erscheinen in Prerau an.
Man hielt es nicht für glaublich, daß ein Brand wochenlang dauern und eine große Stadt fast ganz einäschern könne!
An öfteren und größeren Bränden, veranlaßt durch Brandstiftung und begünstigt durch die Stroh- und Schindelbedachungen und durch die mangelhaften Löschvorrichtungen — es gab damals nur eine Feuerspritze in der Stadt und die war veraltet — hat es anfangs der 1840er Jahre auch in Prerau nicht gefehlt.
In solchen Fällen flüchteten sich die Frauen mit den Kindern aus dem Hause und nahmen vor allem das Gold- und Silberzeug mit, welchem das vom letzten Sederabend herrührende „Afikaumon“ (s.Seite 92) beigepackt war.
Das elterliche Haus wurde dreimal (u.zw. in den Jahren 1843 und 1848 und am 18.August 1868) von Feuer heimgesucht. Man könnte deshalb fast an die Folgen der ominösen Konskriptionsnummer XIII glauben, wenn nicht gleichzeitig auch die Nachbarhäuser rechts und links, das sind die Nummern 12 und 14, abgebrannt wären (s.Anm.22).
„Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß,
als heimliche Liebe, von der niemand was weiß!“
(Ein altes Volkslied)
Im ersten Stock des großväterlichen Hauses Nr. XIIIb wohnte das junge Ehepaar Mos. Chaj Reh., Jugendfreunde der gottseligen Eltern.
Einige Monate nach meiner Geburt brachte ihnen Frau Adebar ein blauäugiges Töchterchen. Es lag nahe, daß die beiden Mütter sogleich nach Frauenart Heiratspläne für die Kinder schmiedeten. Diese wurden demzufolge auch Jugendgespielen.
Die holde Schöne, deren Vater nach wenigen Jahren gestorben war, kam jedoch in frühester Jugend zu ihren Großeltern, Aberl Ldtnr., nach Loschitz und besuchte erst als zwölfjähriges Mädchen ihre Mutter anläßlich der Schowuaustage.
Man neckte mich mit der seinerzeitigen Verabredung der Mütter, welche allgemein bekannt war und ich ließ mir dies gerne gefallen, da ich von Jugend auf Schönheitssinn besaß und es meiner Eitelkeit schmeichelte, daß mein Name mit dem „schönen Mädchen aus der Fremde“ zusammen genannt wurde. Honni soit, qui mal y pense.
Um vor der Braut in spe zu glänzen, trug ich an den beiden Schowuaus-Tagen meine schönsten Kleidungsstücke; dagegen machten mir die am ersten Festtage während des gemeinsamen Spazierganges beschmutzten eleganten Stiefel große Sorgen, da das jüdische Stubenmädchen sie am Jomtauw nicht putzen durfte. Es blieb mir nichts übrig, als daß ich sie eigenhändig wichste, selbstverständlich an einem versteckten Orte (s.Anm.23).
Der Urvater Adam sündigte ja auch der Eva zuliebe! Es ist mir entfallen, welche Buße ich mir wegen der Feiertagsentweihung selbst auferlegte.
Unsere Liebe scheint jedoch in der himmlischen Ehekanzlei keine Gnade gefunden zu haben!
Das seinerzeitige Heiratsprojekt der beiden Mütter hat sich nicht verwirklicht und nach dem physikalischen Gesetze, daß „das Spröde mit dem Zarten sich vereinen soll“ (Schiller: „Die Glocke“), wurde die zarte Schöne später die Gattin des früher erwähnten Chajem Gaslen.
„Der Mann muß hinaus
ins feindliche Leben.“
(Schiller)
Die Schilderung des Ghettolebens wäre unvollständig und lückenhaft, wenn ich nicht noch das Leben einer jüdischen Familie, wie es sich im Laufe einer Woche abspielte, beschreiben und auch einige Gebräuche erwähnen würde.
Sonntag, zeitlich früh, nahm der jüdische Werktag seinen Anfang; jedermann ging seiner gewohnten Beschäftigung und seinen persönlichen Sorgen nach.
Die Dorfgeher und Hausierer gingen bei Tagesgrauen in die umliegenden Dörfer und kamen erst Freitag mittag nach Hause. Jeder von ihnen hatte seinen eigenen Rayon und keiner ging dem anderen ins Gehege. Dieser Rayon vererbte sich auch stillschweigend auf seine Nachfolger.
Ein polnischer Schnorrer, der eine heiratsfähige Tochter hatte, beantwortete die Frage des Schadchen (Heiratsvermittler) nach der Höhe der Mitgift dahin, daß er seinem zukünftigen Schwiegersohne Mähren, Schlesien und Böhmen zum Abschnorren überlasse, welche Kronländer sich ihm bisher als ergiebige Almosengegenden bewährt haben.
Während der ganzen Woche nährten sich die Dorfgeher kümmerlich von mitgenommenem Butterbrot, Eiern und schwarzem Kaffee, da man in den Dörfern nirgends koschere Speisen bekam.
Die Inhaber der am Niederring befindlichen gemieteten Lokale, euphemistisch „Gewölbe“ genannt (weil hinter den überwölbten Lauben gelegen), öffneten diese am Sonntag sehr zeitlich, um die Käufer flott abfertigen zu können. Die Verkaufsstunden waren an diesem Tage knapp bemessen, denn sämtliche Geschäfte durften nur bis zum Beginn des Hochamtes (gegen zehn Uhr vormittags) offengehalten werden.
Nach dieser Zeit trat strengste Sonntagsruhe ein. Die zuhause gebliebenen Balbatim widmeten den Sonntag-Nachmittag den Angelegenheiten der Kehilla, da der Jude außerhalb des Ghettos von Amt und Würden ausgeschlossen war. Täglich, besonders aber am Montag, Donnerstag und am Rauschchaudesch ging man zum Frühgottesdienst in die Schul, weil an diesen Tagen Bruchstücke aus der Thora vorgelesen und überhaupt eine größere Anzahl von Gebeten als an den anderen Werktagen verrichtet wurde, z.B. am Montag und Donnerstag „Langwehurachum“ (ein Bußgebet); im täglichen Tachnum (Gnadenbitte) wurde das Schuw mecharaun apecho (d.i. ein Pismon) eingeschaltet usw.
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In damaliger Zeit nahmen die Rabbiner wegen ihres frommen Lebenswandels und ihres vielseitigen talmudischen Wissens eine sehr geachtete Stellung in ihren Gemeinden ein.
Bevor sich der Rabbiner in der Schul nicht einfand, wurde mit dem Vorbeten nicht begonnen.
Er war der erste und blieb als letzter bis nach Beendigung des Gottesdienstes 1) und dieser Verpflichtung entzog er sich nie unter nichtigen Vorwänden, wie es angeblich in der Jetztzeit seitens mancher moderner Rabbiner hie und da geschehen soll.
Zu seinen Prärogativen gehörte es, daß er beim Schemah-Gebet den Passus von „Wajaumar bis Elohechem“ (Gott sprach zu Moses, ich bin Euer Gott) mit lauter, in der ganzen Schul vernehmbarer Stimme hersagte und erst dann fiel der Vorbeter mit dem Worte „Emes“ (es ist wahr) ein.
Das „Schmone Esre“ (Achtzehner-Gebet, sogenannt wegen der in selbem vorkommenden achtzehn Benediktionen und welches nur stehend verrichtet wurde) durfte der Vorbeter nicht früher laut wiederholen, bevor es nicht der Rabbiner in der Stille beendet hatte. Als Zeichen der Beendigung diente das Rückwärtsgehen mit drei Schritten.
Der Rabbiner und die sehr frommen Juden trugen an den Werktagen beim Morgengottesdienst ober der Stirnmitte sehr große „Tefillin-Gehäuse“ und hatten gleich dem Vorbeter den Tallis über den Kopf geschlagen und bewegten den Oberkörper beim Beten wie die Derwische, um sich in Extase zu versetzen, weil es im Psalm 35, V.10, heißt: „Kol atzmauszaj tomarnu“, d.i. mein ganzer Körper soll sprechen.
Von dem profanen Publikum verhielten sich die meisten unbeweglich und aufrecht beim Beten; denn der Großteil derselben war unstreitig der Meinung, daß die Andacht in ehrerbietiger Stellung größer ist als bei heftiger Bewegung des Körpers.
Zudem sagen unsere Gelehrten, daß nur die Andacht und die Inbrunst des Gebetes zur wahren Weisheit und zur Erkenntnis Gottes führen und ferner, daß das Gebet ohne Andacht (Schelau Bikwonoh) und ohne die richtige Seelenstimmung wie ein Körper ohne Seele sei (Talmud Berachot 34 und Jesaias K.29, V.13).
Man kann ja Gott auf verschiedene Weise anbeten; dies ist Sache des Wissens und der individuellen Auffassung.
„Du sollst beten, nicht lang, aber innig.“
(Friedrich Halm).
Laut Mitteilung eines sehr gelehrten Rabbiners (Dr.Op.) haben zu Moses Zeiten die männlichen großjährigen Juden während des ganzen Tages Tallis und Tautofaus (s.Anm.24) getragen, welche sie nach späterer Anordnung nur bei Notdurftverrichtung ablegten.
Am Tallis, unter welchem Ausdruck eine Umhülle, d.i. ein Überwurf über die anderen Kleidungsstücke gemeint sein dürfte, wurden die Zizzis (Schaufäden) an den vier Enden desselben angebracht, weil es nicht angängig war, jedes einzelne Kleidungsstück mit Zizzis zu versehen.
Im Morgengebete heißt es „Wehawienu lescholaum mearba kanfaus hooretz“ (Führe uns in Frieden aus den vier Weltgegenden zusammen) und deshalb tragen die Juden männlichen Geschlechtes, selbst Knaben von drei bis vier Jahren auf dem Hemd eine Art Leinen- oder gestickten Brust- und Rückenlatz, an dessen vier Enden je eine Zizzis eingeflochten war, von welchen man, falls man beim Beten keinen Tallis benützte, die zwei vorderen bei obgenannter Stelle in die rechte Hand nahm und bei den Worten des Schema-Gebetes: „Weossu lochem zizzis“ inbrünstig küßte. Das Pseudo-Gilet nannte man: Arba Kanfaus (Viereckenkleid) und weil viele Juden — besonders die aus Polen und Galizien — auch tagsüber die Zizzis aus denselben herausbaumeln ließen, so dürften die Andersgläubigen (namentlich in slawischen Gegenden) das Arba Kanfaus bezw. den Träger desselben mit dem Worte Zidakel, d.i. Judenkleid, oder die Knaben Zidacek (kleiner Jude) bezeichnet haben.
Betreffs der Zizzis heißt es im vierten Buch Moses, K.15, V.38/39: Die Israeliten sollen an den vier Enden der Kleidungsstücke Schaufäden anbringen, in welchen ein blauer Faden besonders sichtbar sein soll, damit sie bei dessen Anblick aller Gebote Gottes eingedenk seien.
Zu Moses’ Zeiten wurde dieser blaue Faden mit dem Safte der im Meer vorkommenden Purpurschnecke (Chiloson) gefärbt und deshalb war die Färbung sehr teuer. Wegen der Seltenheit dieses Tieres gestatteten später die bedeutendsten Gesetzeslehrer, daß der blaue Faden in den Zizzis nicht mehr vorhanden sein müsse (s.Mitteilungen des Herrn Dr.Kantor im Menachod 158 und Real-Encyklopädie, Suppl.II, S.158).
Dagegen dürfte man im Laufe der Jahrhunderte, als die künstlichen blauen Farbstoffe billiger wurden, zur Erinnerung an den ehemaligen echten blauen Zizzisfaden, an dem Tallis blaue Streifen angebracht haben, obzwar es viel einfacher gewesen wäre, anstelle eines weißen einen blauen Faden in den Zizzis einzuflechten, anstatt der blauen breiten Streifen an dem Tallis!
Die Zizzis bestehen in der Jetztzeit aus 8 wollenen oder seidenen Fäden, welche eigentümlich gewunden und fünfmal geknotet sind. Die Pharisäer, welche eine besondere Sekte unter den Israeliten bildeten, trugen zu Christi Zeiten als religiöse Kennzeichen sehr breite Schaufäden (Matthäus K.23, V.5).
Die Tefillin der Jetztzeit — welch erster Ausdruck in der Bibel nirgends vorkommt — sind nach Ansicht vieler Gelehrter von dem ehemaligen Tautofaus wesentlich verschieden; denn das Tautofaus war eine Art Kopfschmuck, welcher zu Moses’ Zeiten den heidnischen Nachbarvölkern der Israeliten als Zierde diente.
Damit Letztere eingedenk seien, daß ihre Erstgeborenen, Mensch und Vieh, vor dem Auszug aus Ägypten vom Tode verschont blieben und damit sie sich der zehn Gebote und der sonstigen göttlichen Vorschriften stets erinnern, dürfte ihnen Moses das Tragen eines religiösen Kopfschmuckes und einer Binde am Arm anbefohlen haben, welche vermutlich in einer oberhalb der Stirnmitte und in einer am linken Oberarm herabhängenden kleinen viereckigen Kapsel Bibelabschriften enthielten (II. Moses, K.13, V. 9 und 16 und Anm.25).
Die Msuso enthielt ebenfalls Bibelverse, und zwar nach V. Moses, K.6, V 9: „Schreibe die Gottesgebote an die Pfosten deines Hauses und an deine Tore.“
Diese wurden auf Pergamentpapier geschrieben (der Papyros der Ägypter existierte ja schon zu Moses’ Zeiten) oder auf Tontafeln eingeritzt oder eingebrannt in ein hölzernes oder in ein Eisenblech-Gehäuse — in welchem das Wort Schadai sichtbar war — gelegt und rechts vom Eingang im oberen Drittel des Tür- oder Torfutters befestigt. Sie soll symbolisch an die Gegenwart Gottes erinnern.
Wahrscheinlich wurden auch am Mauerwerk Bibelverse angeschrieben, damit jeder Vorübergehende wisse, daß in dem betreffenden Hause Israeliten wohnen.
Es war ja auch bei den anderen Völkern des Morgenlandes üblich, heilige Sprüche auf Türen und Pfosten zu schreiben (Rosenmüller: „Das alte Morgenland“).
In der Jetztzeit finden wir derartige heilige und profane Aufschriften an kirchlichen und privaten Gebäuden; z.B. im Adonai lau jiwme wajis, schow omlu waunow, d.i. ohne Gottvertrauen gedeiht kein Haus; Glück herein, Unglück hinaus; justitia regnorum fundamantum; pax intrantibus etc.
Die Ermittlung des Zeitpunktes, wann das Tautofaus und die Armbinde der mosaischen Zeit in die jetzige Form der Tefillin übergegangen sind, überlasse ich den Forschungen der jüdischen Archäologen!
Aus dem Umstande, daß man bei den Ruinenausgrabungen weder in Babylon noch in Palästina irgendwo Bruchstücke des Tautofaus gefunden hat und daß sie auch nicht als Beutestücke neben den vielen anderen Gold- und Silbergefäßen des durch Titus eroberten Jerusalemer Tempels dem Volke zu Rom gezeigt wurden, glaubt man mit Recht voraussetzen zu dürfen, daß sie — die Tautofaus — bereits zur Zeit des ersten und zweiten Tempels außer Gebrauch waren und daß die Tefillin der Jetztzeit erst im Mittelalter, vielleicht zu Beginn der Judenverfolgungen, wieder eingeführt wurden und kein mosaisches Erfordernis beim Beten bilden ( Real-Encykl., 2.Teil, Seite 1204).
Wenn trotzdem viele fromme Juden glauben, ihre Andacht nicht ohne Tefillin verrichten zu dürfen, so wäre es sehr wünschenswert, daß sie sich z.B. im Eisenbahncoupé oder auf den Wochen- und Jahrmärkten eine gewisse Reserve auferlegen, einesteils, um unnötiger Kritisierung und eventueller Verspottung roher und ungebildeter Leute vorzubeugen, und ferner, weil unser Auge durch jedes unästhetische Äußere und auffällige Gebahren unangenehm berührt wird.
„Alle Menschen, sowohl fromme als auch die weniger frommen wissen, daß Gott nur ein reines Herz verlangt; man kann Gott auch in Gedanken, mit der Seele allein, auf verschiedene Art dienen.“ (Lehrsatz des Rabbi Isr. Baal Schem, geb. 1700, gest. 1768.)
Gott (Ehl, Jahwe) ist der populärste Name auf Erden. Mitten im Felde, gestützt auf seinen Pflug, hebt der Landmann sein Auge gegen Himmel; er nennt Gott seinen Kindern mit einer Bewegung, die so einfach ist wie seine Seele. Der Arme nennt ihn, der Sterbende ruft ihn an, der Sünder fürchtet ihn, der Rechtschaffene preist ihn, der Sieger dankt ihm, der Besiegte sucht bei ihm Hilfe. Es gibt keinen Ort, keine Zeit, keine Gelegenheit, kein Gefühl, wo Gott nicht genannt wird.
„Seinen Namen beten alle Völker an, sie bauen ihm Tempel und weihen ihm Priester. Gottes Name ist der heiligste, der wirksamste, der populärste Name, den die Lippen der Menschen je auszusprechen das Glück hatten.“ (Pater Lacordaire).
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In den Jahren 1840 bis 1850 herrschten strenge Winter.
Wenn die Juden am Sabbat in die Synagoge gingen, hüllten sie, wegen der großen Kälte daselbst, ihre Oberkörper in ihre dicken Reise- oder Arbeitspelze.
Der eine Pelz hatte einen braunen, der andere einen grünen, der dritte einen roten Lederüberzug und manchen Schmutzfleck! Welch unästhetischen Anblick hätte es gewährt, wenn sie in diesem bunten Anzug wären zur Thora aufgerufen worden!
Sämtliche Juden der Jetztzeit, welcher religiösen Richtung sie auch angehören, sind daher darüber einig, daß man zum mindesten beim Hauptgottesdienst, besonders wenn man zur Thora aufgerufen wird, den Tallis umnehmen soll. Nicht minder beleidigend wäre es für das Auge, wenn sich an Werktagen die Handwerker, z.B. Bäcker, Tischler, Schuster usw., in ihren Arbeitsanzügen im Tempel einfinden würden!
Das Anstandsgefühl sagt es ja jedem von selbst, daß man die Synagoge nur in reiner Kleidung betreten soll; denn obzwar Gott nicht auf das Äußere sieht (ascher lau jiwo phonino), so möge man bedenken, daß das Gotteshaus ein Heiligtum ist, von welchem es im II. Buch Moses, K.3, V.5 heißt: „Schal neolecho meal raglecho, ki hamokaum admas kaudesch hu“, d.h. symbolisch „Ziehe deine Schuhe aus, denn der Ort, wo du stehst, ist heilig.“
Auch in der Jetztzeit legt der Mohammedaner die Fußbekleidung ab, wenn er die Moschee betritt und wenn er in der Wüste oder im freien Felde oder in seinem Heim, das Gesicht nach Mekka gewendet, seine Gebete verrichtet.
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Ich bin religiös, aber nicht orthodox und glaube mich in Übereinstimmung mit vielen frommen, talmudisch hochgebildeten Glaubensgenossen, wenn ich meine wiederholt geäußerte Anregung erneuere, daß trotz der Mißerfolge der seinerzeitigen Braunschweiger, Frankfurter und verschiedener anderer Synoden abermals eine solche aus Rabbinern und Laien bestehende zusammentreten solle behufs Änderung einiger veralteter Institutionen.
Diese Institutionen konnten sich s.Zt. in abgeschlossenen jüdischen Gebieten behaupten, sind aber in der Diaspora bei dem gegenwärtigen lebhaften Verkehr und gegenüber den Bedürfnissen der modernen Welt nicht mehr zeitgemäß.
Der im V.Moses, K.4, V.2 und K.13, V.1 vorkommende Passus: Lau szaussifu, wlau szigru mimenu (Ihr sollte zu den Geboten nichts hinzutun und nichts davon wegnehmen) wird durch die Sätze V.Moses, K.17, V.8-11 teilweise paralysiert, denn durch diese letzteren Bestimmungen wird dem Volke befohlen, in juridischen und Kultus-Angelegenheiten auch das Obergericht zu hören, welches durch ein Kollegium der Gesetzeslehrer nach seiner Gesetzesauslegung und gewonnenen Einsicht zur Mehrung oder Minderung der Gesetze schreiten darf. Tatsächlich sind ja durch Josua, Samuel, Elias usw. Gesetze dazugekommen und viele aufgehoben worden. (s. Dr. Hamburger Real-Encyklopädie, S.14, 38, 43/51, Suppl.I., I.u.II., S.145/46.).
Der Talmud bemerkt sehr treffend dazu: „Ehs laaszaus l’adonai, hefhero taurossecho“, d.i. wenn es sich darum handelt, etwas zur Erhaltung der Religion oder von Menschenleben zu wirken, steht es den geistigen Führern Israels frei, sich über manches Religionsgesetz hinwegzusetzen. Zudem heißt es: W’chajbohem, w’wlo schejomus bohem: man soll durch die Gebote leben aber nicht durch sie sterben.
Wie sich dieser Lehrsatz in der Wirklichkeit bewährte, möge aus folgender wahren Begebenheit entnommen werden: In einer kleinen polnischen Gemeinde nahe der russischen Grenze wütete im Hochsommer des Jahres 1849 in der engen Judengasse die Cholera derart, daß Leichenwärter und Totengräber ihre Tätigkeit einstellen mußten, weil sie die vielen Leichen nicht mehr bestatten konnten. In der Kolnidrenacht bis zum Schachrit starben so viele, daß der Rabbiner besser getan hätte, beim Seelengedächtnis die Namen der Überlebenden statt der Verstorbenen zu verlesen. Um das Sterben halbwegs einzuschränken, berief er nach dem Mussaf die beiden Dajanim zu sich auf den Almemor, und nach kurzer Beratung mit ihnen verkündete er mit lauter Stimme: Im Namen Gottes und der Gemeinde gestatten wir heute zu essen und zu trinken, denn es gibt Zeiten, wo es geradezu geboten ist, die Thoravorschriften zu verletzen; denn leben soll man durch die Gebote, aber nicht durch sie sterben. Trotz wiederholter Aufforderung wollte sich niemand von der Stelle rühren. Da ließ er durch den Schames Wein und Barches auf den Almemor bringen. Als die Leute den Rabbiner und die Dajanim essen und trinken sahen, folgten sie diesem Beispiele und tatsächlich fand die Cholera an den gekräftigten Körpern ihren Widerstand (Dr.Frischmann: „Ein Schmaus am Jaumkipur“).
In erster Linie wäre die Abschaffung des zweiten Rauschchaudesch-Tages und demzufolge der Doppelfeiertage nötig.
In Palästina wird von Schowuaus und Rauschhaschono nur der erste, von Pessach und Sukkaus nur der erste und letzte Tag als Hauptfeiertag gehalten und wir bei unserer genaueren Kenntnis des Kalenders sollen je zwei Tage feiern! Wo ist da die Logik 1)?
Zudem stehen wir im ewigen wirtschaftlichen Kampfe mit den Andersgläubigen und müßten, da jeder ausfallende Arbeitstag Geld kostet, materiell zurückbleiben 2)!
Auch eine Verminderung der vielen Fasttage wäre eine sanitäre Wohltat.
„Wenn der Leib geschwächt wird, ist auch die Seele geschwächt.“ Rabbi Jehuda I., der Fürst, (geb.137, gest.194 der ggw.Zeitr.) lehrte, daß man die Gemeinde nicht zu viel mit Fasten belästigen solle (s.Dr.Hamburger: Real-Encyklopädie II., S.134). Es heißt auch in der Gemara: „Wer zuviel fastet, ist ein Sünder.“
Nicht minder wäre eine Änderung vieler mißgedeuteter, teilweise in aramäischer oder chaldäischer Sprache verfaßter Gebote, eine Änderung des Rituellen, und das Vorlesen der 5 Bücher Moses ohne Trop angezeigt (Prof.Dr.Graetz: „Die Geschichte der Juden“, III.Teil, S.370: Leon Modena, geb.1571, gest.1649, welcher schon damals Vereinfachung der Gebete, Aufhebung des zweiten Feiertages, Erleichterung der Sabbat- und Feiertagsgebote, Passah, und sonstigen Speisegesetze, forderte.
Gerade nach Ausscheidung vieler Erschwerungen, seinerzeit eine Folge des Geder la Thora (Umzäunung der Thoravorschriften, z.B. wie die Außenforts einer Festung), würden die zeitgemäßen Gebote eher gehalten werden und könnte sich die reine Gottesidee im Herzen aller Bekenner tief einprägen und in der Zukunft Gemeingut aller Menschen werden. Viele Rabbiner verboten selbst Kleinigkeiten, damit die wichtigen Gebote umso eher gehalten werden; man nannte dies: „Geder la thora“ (s.Anm.26).
„Jedes Gesetz soll nur so lange giltig sein,
als die Verhältnisse bestehen,
für die es geschaffen wurde.“
(Karl Hans Strobl)
Der alte Prerauer Rabbiner Mauro Morenu Raw Ahron Grün (geb.1773, gest.am 16.März 1857) war — wie er noch jetzt geistig vor meinen Augen steht — eine ehrwürdige, imponierende Patriarchengestalt, ein Vorbild von Frömmigkeit und religiösem Pflichtgefühl; er trug, seiner geistlichen Würde entsprechend, an Werktagen einen langen, schwarzen Rock, schwarze Beinkleider, einen breitkrämpigen, niederen Hut und am Sabbat sowie Jaumtauw in der Synagoge einen Kaftan und ein Streimel, d.i. eine mit Zobel verbrämte Mütze.
Den Kaftan und die verbrämte Mütze trugen die älteren Rabbiner in der Synagoge vorwiegend am Sabbat und an den drei hohen Festtagen und bei sonstigen wichtigen Veranlassungen. Das Barett und der Talar der Jetztzeit waren während der geschilderten Dekade fast unbekannt. Auch wären sie von den älteren Rabbinern (wegen Chukas hagoj oder event. Verwechslung mit den Geistlichen anderer Konfessionen) perhorresziert (mit Abscheu zurückgewiesen) worden.
Alljährlich hielt er in der Synagoge an den drei hohen Festtagen Vorträge aus dem Midrasch und am Sabbat hagodaul (vor Ostern) und am Sabbat tschuwo (vor dem Versöhnungstage) talmudische Draschas (Abhandlungen).
Am ersten Tage des Rauschhaschonoh vor dem Schaufarblasen und vor Kol nidre predigte er Moral; er pflegte zu sagen: „Ihr Pausche Jisroelim (Frevler) werdet in’s Gehinnom (Hölle) kommen, wenn Ihr Eure Sünden nicht ableget, nicht Einkehr in Euch haltet und Buße tuet!“
Man verübelte es ihm nicht, daß er sich kein Blatt vor den Mund nahm, weil jeder Einzelne wußte, daß er aus Überzeugung sprach; seine Worte kamen vom Herzen und gingen zum Herzen.
Die Ansprachen dauerten nie länger als höchstens zwanzig Minuten und gerade durch ihre Kürze und Knappheit machten sie einen größeren Eindruck, als wenn er längere Zeit gesprochen hätte.
Leider verfallen in der Jetztzeit manche modernen Prediger in den Fehler, bis zu dreiviertel Stunden zu sprechen, wodurch sie nichts weniger als erbauend, sondern einschläfernd wirken. Für viele scheint der alte Spruch: „Kürze ist die Würze der Rede und des Gesanges“ nicht zu existieren.
Manche Kantoren ignorieren auch die traditionellen Melodien der Altmeister Levandovsky, Halevy, Sulzer, Baruch Schorr etc. und rezitieren viele erhabene Gebete mit profanem Gesang, wodurch die gewohnte weihevolle Andacht nicht erweckt werden kann.
Man braucht deshalb kein Reaktionär zu sein, wenn man die althebräischen Synagogalgesänge vorzieht; denn jede Generation hat ein anderes Hörgefühl.
* * *
Der Gottesdienst am Vorabend des Jaumkipur begann in der Regel gegen sechs Uhr abends. Die Synagoge erstrahlte im Kerzenlicht, da die meisten Familienväter je eine bis zwei große, ungebleichte Wachskerzen als Spende für das Seelenheil der verstorbenen nächsten Verwandten (z.B. Eltern, Kinder usw.) anzünden ließen.
Sämtliche verheiratete Männer und Frauen trugen weiße Gewänder (Khittel bezw. weiße Leinenkleider).
Vor Beginn des Gottesdienstes wurden bei Umhüllung des Tallis die Worte: „Boruch atoh adonai“ bis „l’hisatew b’zizzis“ (d.i. gelobt sei Gott, der das Umhüllen des Zizziskleides befohlen hat) der Reihenfolge nach vom Rabbiner, vom Chasan, von den Ehrenvorbetern und sogar von dem Schaufarbläser mit sonorer, in der ganzen Synagoge vernehmbarer hoher oder tiefer Stimme rezitiert und aus der Art und Weise, wie die Vorbeter diese wenigen Worte sprachen, konnte man sich vorstellen, was man von ihrer gesanglichen Leistung zu erwarten habe.
Nachdem das andere Publikum ebenfalls den Tallis umgenommen hatte, trat der Rabbiner in Begleitung von zwei der angesehensten älteren Talmudisten (d.i. als dreigliedriges Bes-Din) vor die geöffnete Bundeslade und sprachen die Worte: „Bieschiwoh schel maaloh“ bis „hoauwrajnim“, d.i.: „Im Namen des allgegenwärtigen Gottes, der in die tiefsten Falten des menschlichen Herzens sieht, gestatten wir, daß auch diejenigen an unserer heutigen Bußfeier teilnehmen, welche physisch oder moralisch durch Zwangseide zur Verleugnung ihres angestammten Glaubens gezwungen wurden und trotzdem demselben im Geiste treu geblieben sind; denn Zwangseide sind Gott leid und binden niemand.“ (s.Anm.27).
Nachher rezitierte der Chasan dreimal das Kolnidre in herzbewegenden Sulzer’schen Melodien, welche sämtliche Anwesende in eine weihevolle Stimmung versetzten, ja, sie bis zu Tränen rührten. Die im Kol nidre vorkommenden Worte: „daß alle im Laufe des Jahres abzulegenden Eide im voraus für ungiltig erklärt werden“, haben viele Vorurteile gegen die Juden erweckt, trotz der feierlichen Versicherung der hervorragendsten Rabbiner, daß diese Ungültigkeitserklärung sich nur auf übereilte Gelöbnisse oder auf die, seine eigene Person (Nasiräer) betreffenden Entsagungseide beziehe, die man in aufgeregten und leidenschaftlichen Momenten ohne Vorbedacht ablege, „aber nicht auf Eide, welche zur Beteuerung der Wahrheit im Privatverkehr oder vor Gericht geschworen werden“.
Obwohl den Feinden des Judentums bekannt ist, daß die Jünger des Loyola zufolge ihrer Weitherzigkeit in der Moral Eide sub reservatione mentali gestatteten, weisen sie trotzdem, wenn sie sich davon Vorteile versprechen, auf den Wortlaut des Kolnidretextes hin, unter Ignorierung der Rabbinererklärungen.
Sämtliche Gerichtsbeamte werden es bezeugen, wie sehr die Juden von der Heiligkeit des Eides durchdrungen sind und daß Meineide bei den Juden zu den größten Seltenheiten gehören, was auch durch die Gerichtsstatistik bestätigt wird.
Aus den Gebetbüchern der freisinnigen Gemeinden wurde nichtsdestoweniger das Kolnidregebet eliminiert, zum Leidwesen der Chasanim, deren schönstes Repertoirestück dadurch ausfiel. Viele dieser Gemeinden führten dagegen die Rezitation des Kolnidre später wieder ein, um zu zeigen, welch’ geringer Wert den Anwürfen des berüchtigten antisemitischen Wiener Gemeinderates und seiner Genossen beizulegen sei („Österr. Wochenschrift“ vom 18.August 1913).
"Wenn ich Christen auf die Juden schimpfen höre,
so dünkt es mich, ich sähe Kinder ihre Väter schlagen.“
(Voltaire: „Aphorismen“)
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