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„Eines gibt es, welches selbst schweigsame und
zurückhaltende Menschen gesprächig macht —
es ist dies die Erinnerung an ihre Jugend.“
(Marie von Ebner-Eschenbach)
„Jugenderinnerungen sind heilig.“
(W.v.Molo)
Meine gottseligen Eltern vermählten sich laut einer noch vorhandenen, eigenhändig geschriebenen Hochzeitsanzeige meiner gottseligen Mutter, Sonntag, den 17. Juni 1832 in Klein-Beranau bei Iglau. Gedruckte Hochzeitskarten waren in der damaligen Zeit nicht üblich.
Am 1. Elul des nächstfolgenden Jahres (Freitag, den 16. August 1833) erblickte ich in Prerau), woselbst meine Eltern wohnten, das Licht der Welt. Trotzdem ich ein Freitagskind bin und das Geburtshaus die Konskriptionsnummer XIII trug 1), verlief meine Kindheit ohne unheilvollen Zwischenfall.
Möglicherweise paralysierte das am 1. Elul eines jeden Jahres beim Schachris (Morgen-Gebet) stattfindende Schofarblasen die unheilvollen Wirkungen des Freitags und der ominösen Zahl 13.
Woher das Vorurteil der heutigen Juden gegen den „Freitag“ stammt, ist unerklärlich! Am Freitag wurde das erhabenste Gebilde, der Mensch, erschaffen (I.Moses, K.1, V. 27). Rabbi Aschi, ein frommer Gelehrter des vierten Jahrhunderts, sagte sogar, die am Freitag Geborenen seien strebsam nach dem Guten (Dr.Hamburger: Real-Encyklopädie, IV., Abt. III).
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Meine Großeltern väterlicherseits hießen Joachim Loeb und Judes (Julie) Briess. Der Familienname Briess existierte bereits mehr als 200 Jahre vor der am 1. Jänner 1788 für jedermann obligatorisch eingeführten Annahme von deutschen Vor- und Zunamen (Dr.Scari: „Systematische Darstellung der betreff der Juden erlassenen Gesetze“).
Am 25. Juli 1670 übersiedelten 8 Judenfamilien von Wien nach Kremsier, unter dem Olmützer Fürstbischof Karl II., Grafen von Liechtenstein, welcher ihnen vorläufig einen Schutzbrief für vier Jahre erteilt hatte (Prof.Dav.Kaufmann: „Die letzte Vertreibung der Juden aus Wien“ und Dr.Frankel Grün: „Geschichte der Juden in Kremsier“, 1896).
Diesen folgten später noch mehrere Familien, darunter Eisik und Michael Briess, welche je 4 fl. Kultussteuer jährlich zahlten und somit wohlhabend gewesen sein mußten, da vier Gulden schon eine höhere Steuerklasse bildeten. Auch eine Familie Bruck ist unter den Übersiedelten genannt (Kaufmann, ibidem). Laut freundlicher Mitteilung des Herrn Dr.Leopold Goldstein, Rabbiner in Proßnitz, erscheinen im Protokollbuch der Israeliten-Gemeinde Proßnitz die Namen Jehoschua Briess (gest.1742) und Jizchak Briess (gest.1765), von welchen ersterer sogar die Würde eines Roschhakahal (Kultusvorsteher) bekleidete und laut seiner Grabschrift ein reicher Mann (hakozin) gewesen ist.
Wann die ersten Mitglieder der Familien Briess und Bruck nach Prerau kamen, ist nicht mehr zu ermitteln; die seinerzeitige Prerauer jüdische Gemeindechronik ist wahrscheinlich während einer der vielen Feuersbrünste ein Raub der Flammen geworden. Immerhin mag in Prerau bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Judengemeinde bestanden haben, da unter den gelehrten Rabbinern des 16. Jahrhunderts der Rabbiner R. Abraham in Prerau vom Rabbiner Moses Israel in Krakau (gest.1573) genannt wird (Dr.Friedländer: „Kom.Haddo-roth“). Ferner wirkte im Jahre 1688 ein Wiener namens Isak, der vorher in Prerau das Rabbinat bekleidet hatte, als Rabbiner in Hürban, Provinz Schwaben in Bayern (Prof.Dr.Kaufmann).
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Die Großeltern bewohnten ihr eigenes schuldenfreies Haus, lebten somit für die damalige Zeit in guten Verhältnissen.
Laut Dekret Kaiser Karls VI. vom 27. Juni 1727 (Dr.Theodor Haas: „Die Juden in Mähren“, Brünn 1900, S.10) mußten die Juden abgesondert von den Christen wohnen, der Ankauf von christlichen Häusern (mit Ausnahme von Branntweinbrennereien) war ihnen untersagt; ihr Besitz bzw. ein Kauf oder Verkauf war auf die vorhandenen Judenhäuser beschränkt und eine Vermehrung derselben durch Neubauten war strenge verboten, da sie auch Grundstücke — ausgenommen für Fabrikszwecke — nicht erwerben durften.
Dies hatte zur Folge, daß die bestehenden Häuser wieder nur an Juden verkauft oder vererbt werden konnten. Deshalb geschah es auch, daß ein Haus zwei bis sechs Eigentümer hatte, daß nur die Vorhäuser und Keller gemeinschaftlich waren, und es war nicht selten, daß z.B. dem Einen die ebenerdige Wohnung links vom Eingang gehörte und dem Anderen die darüber im ersten Stock befindliche; dem Dritten und Vierten der ähnliche Teil rechts vom Eingang; dem Fünften und Sechsten die rückwärtigen Wohnungen.
Nach Dr.Haas (ibidem S.68, Tabelle C) gab es in Prerau im Jahre 1834 nur 16 Judenhäuser; bis zum Jahre 1869 erhöhte sich deren Zahl um 5 und bis zum Jahre 1900 um weitere 4, sodaß sie zusammen 25 betrugen, deren Eigentümer ich mit Namen anführen könnte.
Entweder der kategorische Imperativ oder die große Verträglichkeit der Bewohner hatte zur Folge, daß man in der Öffentlichkeit selten irgendetwas von Zwistigkeiten hörte. Mir ist nur ein Fall erinnerlich, wo im Hause Nr… die ebenerdige Wohnung links vom Eingang dem A. gehörte und derselbe Trakt darüber im ersten Stock dem B. Das Vorhaus und das Podest zum Aufgang in den ersten Stock und zum gemeinschaftlichen Dachboden gehörten beiden. Durch die Weigerung des Dienstmädchens des A., der die ebenerdige Wohnung innehatte, das Podest jeden Freitag abzuwaschen, weil es auch von den Bewohnern des ersten Stockes benützt wurde, entstand — anstatt anzuordnen, daß das Dienstmädchen des B. abwechselnd mit dem Dienstmädchen des A. das Podest zu reinigen habe — ein ernster Zwist zwischen den beiden Hausfrauen, welcher sogar eine förmliche Entzweiung der Besitzer und den Verkauf eines Hausanteiles zur Folge hatte (s.Anm.3).
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Die Großeltern hatten eine zahlreiche Familie; sie betrieben einen Handel mit Rohleder und außerdem mit fertigem, d.i. ausgearbeitetem Leder.
Der Ertrag des letzteren und teilweise das darin investierte Kapital dienten zur Bestreitung des Haushaltes. Ein Zweiggeschäft, welches in der Regel durch die Frau geleitet wurde, war damals und ist auch noch heute eine kluge Einrichtung, besonders, wenn die Frau aus dem unkontrollierten Erlöse — Registrierkassen gab es damals nicht — Toilettegegenstände bestreiten wollte, welche nach Ansicht des Mannes nicht seinen Einkünften entsprachen. Denn auch in damaliger Zeit kleidete sich schon manche Frau nach dem Journal und der Mann nach dem Hauptbuche.
Die Großeltern führten ein friedliches patriarchalisches Leben, wie es in den meisten jüdischen Familien — bis auf wenige Ausnahmen — üblich war. Sie feierten die goldene Hochzeit im Jahre 1849, bei welcher jeder der zahlreichen Enkel ein seinem Alter entsprechendes Geschenk (Bücher, Kleidungsstücke usw.) erhielt.
Wenige Tage nach dieser Feier, an welcher sich fast die ganze Gemeinde beteiligte, starb der Großvater am 27.September 1849, wahrscheinlich infolge der freudigen Aufregungen, im Alter von 72 Jahren 1). Aus dieser Ursache wurde es stillschweigende Übereinkunft in unserer Familie, silberne und goldene Hochzeiten nur im engsten Familienkreise zu begehen..
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Der Großvater war viele Jahre Gabai Rischaun (erster Vorsteher) der Chewra Kadischa (Heilige Bruderschaft für freiwillige Krankenpflege und Beerdigung) und oblag diesem Ehrenamt mit Leib und Seele und seltenem Eifer. In der Kehilla (Judengemeinde) scheint deshalb die Meinung entstanden zu sein, daß es ihn freue, wenn die Chewra größere Einnahmen habe, z.B. bei Leichenbegängnissen reicher Leute, und dies dürfte die Veranlassung gewesen sein, daß ihm anläßlich der schweren Erkrankung der zweiten, jungen, bildhübschen Frau des Randars P. nahegelegt wurde, auf die Gabaiwürde zu verzichten 2).
Trotz dieser Resignation und trotzdem eine armdicke Wachskerze in der Körperlänge der Patientin auf dem Friedhofe eingegraben wurde, ist Frau P. nicht genesen 3).
Der Großvater fühlte sich durch die unfreiwillige Resignation sehr gekränkt und hat sich nur durch inständiges Drängen der vollzähligen Chewra Kadischa und durch öffentliche Abbitte des Witwers P. bewegen lassen, die Würde eines Gabai Rischaun wieder anzunehmen.
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Alljährlich am 7. Adar, d.i. dem Geburts- und Sterbetage unseres großen Lehrers Moses, fand nach vorhergegangenem Trauergottesdienste die Jahresversammlung der Chewra Kadischa statt.
Der Festsaal war mit Prauches (Tabernakelvorhang) und Klekaudesch (Paramente) und den silbernen Requisiten (Kamm, Schere, Nadel, Becher) für die Tahara (Leichenwaschung) geschmückt.
Die Ereignisse des abgelaufenen Jahres wurden aus der in hebräischer Sprache geführten Chronik verlesen 1). Nach der Rechnungsgenehmigung und der Neuwahl begann die Chewraszude (Brudermahl).
Hiebei wurden durch den Gabai Rischaun viele Toaste und durch den Chasan (erster Kantor) auf sämtliche Funktionäre Mischeberachs (Bitte zu Gott, daß er die genannten Personen segne) mit lauter Stimme gesprochen.
Der Liberer erweckte viel Heiterkeit durch seine humoristischen Knittelverse und durch Verspottung und Nachahmung einiger Gemeindemitglieder, unter welchen sich manche Originale befanden, die durch eine besondere Eigentümlichkeit oder Schrulle (z.B: Geiz, Menschenscheu, Schüchternheit, Gutmütigkeit, Mutterwitz, Schlauheit usw.) unter der Allgemeinheit auffielen.
Der Liberer war in der Judengemeinde das Faktotum für alles. Er bekam von ihr eine zweizimmrige Gratiswohnung — Hekdesch genannt — von welcher er das größere Zimmer entweder als Spital für erkrankte einheimische Arme oder als Nachtquartier für durchreisende Schnorrer reserviert halten mußte.
Professionsschnorrer, meistens aus Galizien und Polen, kamen mit zahlreicher Kinderschar in der Regel am Freitag spät nachmittags an und blieben über Sabbat in der Kehilla. Freitag abend, Samstag früh und mittags erhielten sie nach einem gewissen Turnus Gratiskost bei den wohlhabenden Familien. Der jüdische Armenvater gab ihnen zur Legitimation eine sogenannte Plett (verstümmelt von Bollette), mit welcher sie sich sofort bei der Frau des Gastgebers melden mußten, damit man sich mit Speisen für die unerwarteten Gäste vorsehen könne.
Würdige Arme saßen am selben Tische mit dem Gastgeber; sie revanchierten sich für die erhaltene Kost durch das Erzählen von Neuigkeiten, die sie bei ihrem steten Wandern von Stadt zu Stadt erfahren hatten oder durch das Aufsagen von irgend einem Midrasch, da die meisten im Talmud bewandert waren.
Bei Hochzeiten trug der Liberer, gleichsam als Hochzeitsbitter, mit einem großen Blumenstrauß aus Buntpapier geschmückt, die geschriebenen Einladungskarten aus und bei Sterbefällen mußte er die Stunde des Begräbnisses in sämtlichen von Juden bewohnten Häusern ansagen, da es damals gedruckte Partezettel nicht gab.
Ebenso mußte er in den Monaten Tischri, Tebeth, Nissan und Thamus in jedem Judenhause Tag und Stunde angeben, wann die Tekufah (Sonnenpunkt) fallen werde, damit man die offenen Wasserbehälter und Fleischspeisen zudecke. Nach einem uralten Aberglauben soll nämlich in dem Augenblicke, in welchem das neue Viertel eines Sonnenjahres beginnt, ein Blutstropfen zur Erde fallen; denn bis Kopernikus (geb.1473, gest.1543) glaubte man allgemein, daß die Sonne und die Planeten sich um die Erde bewegen: (Josua, K.10, V.12, „Sonne in Gibnon stehe still und Mond im Tale Ajabon“). Ein ähnlicher Aberglaube bestand bei den alten Germanen (Abhandlung des Prof. Grün über Aberglaube S.XC, Nr. 509). Es wäre ratsam, daß in den gegenwärtig erscheinenden jüdischen Kalendern die Anzeige des Tekufaheintrittes, an welche kein Jude der Jetztzeit glaubt, ein für allemal unterbleibe, damit der uralte Aberglaube in Vergessenheit gerate.
Vor Beginn der drei Mussafim am Rauschhaschonoh und Jaumkipur mußte er vom Almemor herab mit lauter Stimme ausrufen: „Schtiko jofoh boschaas hatfilo!“ d.i. „Es wird um Ruhe ersucht, damit die Andacht nicht gestört werde.“
Zu seinen Verpflichtungen gehörte es auch, sich bei Vorlesung der Tauchocho (III.Moses, K.26, V.14-46 und V.Moses, K.28, V.16-68), enthaltend die haarsträubenden Flüche bei Nichtbefolgung der Gebote Gottes, aufrufen zu lassen, da selbst Arme diese Alijah nicht annehmen wollten, trotzdem der Chasan „Mi schejirze“, d.h. „es komme wer will“, ausrief und in manchen Gemeinden den sich freiwillig Meldenden sogar eine kleine Geldspende gegeben wurde.
Ein Ausblick in die Jetztzeit: „Daß der Weltkrieg 1914/18 vieles zur Verschlechterung menschlicher Charaktereigenschaften beigetragen hat, bezweifelt niemand, und so ist es kein Wunder, daß sogar der Liberer N. zu streiken gewagt hat. Als er zum Wochenabschnitte Tauchocho aufgerufen wurde, ging er, trotz mehrmaliger energischer Aufforderung des Roschhakahal und des Gabai nicht auf den Almemor; der Gottesdienst hätte unterbrochen werden müssen, wenn der Rabbiner sich nicht rasch entschlossen hätte, die vom Liberer verschmähte Alijah zu übernehmen! Er dürfte sich dabei auch gedacht haben: es ist ja ohnehin eine Klole (Unglück) in mancher Gemeinde Rabbiner zu sein, es kommt daher auf eine Klole mehr oder weniger nicht an.“ Nach beendigtem Gottesdienst brach die Entrüstung über den Liberer mit erneuter Heftigkeit los und die Kloles der Tauchocho entluden sich in vielfach vergrößerter Ausgabe über sein Haupt (Eine Erzählung von Dr. Max Steif, in der „Jüd.Volksstimme“ vom 28.Jänner 1921).
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Trotz Fehlens der modernen hygienischen Einrichtungen (gesundes Trinkwasser, Kanalisation, Beleuchtung, staubloses Pflaster, Parkanlagen usw.) erreichten die meisten Prerauer Juden ein sehr hohes Alter. Leute, welche trotz ihrer 80, 85 und 90 Jahre körperlich und geistig tätig waren, zählten nicht zu den Seltenheiten.
Ein Glück, daß die Lebensversicherung damals noch nicht allgemein verbreitet war, denn nach den rigorosen Statuten mußten die Prämien bis zum Ableben des Versicherten bezahlt werden und hätten insgesamt bedeutend mehr betragen, als die Versicherungssumme der Polizzen.
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Nach aufgehobener Tafel kam wieder Ernst in die Versammlung, indem die sogenannten Chassumim (Mladschim, Neulinge, aus mladsi) mit Handschlag und unter gewissen Zeremonien in die Chewra aufgenommen wurden, durch welche sie frühzeitig abgehärtet und gewöhnt werden sollten, die Scheu vor ansteckenden Krankheiten und vor Berührung von Leichen zu überwinden.
Die ältesten Chewramänner (Skenim) hatten damals einen schweren humanitären Beruf. Sie besorgten abwechselnd unentgeltlich die Pflege der erkrankten Mitglieder und das Nachtwachen bei ihnen; sie mußten bei der Schinu (Agonie) und bei der Jezias Neschomoh (Aushauchen des Lebens) anwesend sein, die vorgeschriebenen Sterbegebete verrichten und sämtliche Vorkehrungen für das Leichenbegängnis (Lewaje) treffen und dem Totengräber bei der Ausschaufelung des Grabes behilflich sein.
Kurz vor dem Ableben des Patienten wurde in der Krankenstube ein oberer Fensterflügel geöffnet, damit — symbolisch — die Seele in die himmlischen Regionen entweichen könne. Nach Eintritt des Todes wurde im Sterbezimmer der Spiegel verhängt und im Trauerhause und in je drei jüdischen Häusern rechts und links davon das in offenen Behältern vorhandene Trinkwasser ausgeschüttet (wegen etwaiger Miasmen oder aus Aberglauben, daß der Todesengel sein Schwert darin gewaschen hätte).
Gleich nach der Totenbeschau wurde der männliche Leichnam gewaschen, gekämmt, mit reiner Wäsche und dem Arba Kanfaus (s.Seite 64) bekleidet und in die weißen Sterbekleider (d.i. Khittel, Khittelhäubchen und Tallis (Gebetmantel)) gehüllt.
Die zwei ersteren waren jene Gewänder, in welchen der Verstorbene als Bräutigam bei seiner Trauung unter der Chuppa (Trauhimmel) stand und welche er nebst dem Tallis an dem Jomim nauroim (Neujahr und Versöhnungstag) in der Synagoge trug.
Bevor der Leichnam auf die Bahre gelegt wurde, baten ihn die Anverwandten um Verzeihung für den Fall, daß sie dem Verstorbenen zu Lebzeiten irgend ein Leid zugefügt hätten; man nannte dies Mechilo-Abbitten.
Nachher wurde der Leichnam ohne Sarg auf der mit einem schwarzen Tuche bedeckten Bahre ohne Sang und Klang zum Friedhof (Beth aulom, d.i. ewige Behausung, auch Gut Ort oder Beth hachajim, Haus des Lebens oder Beth hakworaus, Haus der Gräber, genannt) getragen, da sich dieser nicht weit von der Judengasse befand.
Das Grab wurde mit vier rauhen, ungehobelten Brettern ausgeschalt, welche nach Aufnahme des Leichnams ein fünftes, aus drei Teilen bestehendes breites Brett als Deckel erhielten, auf den man das ausgehobene Erdreich schüttete.
Der Tote wurde mit dem Kopfe nach Osten gebettet, auf seine Augen, Mund und Ohröffnungen wurden kleine Scherben gelegt und er bekam in jede Hand eine kleine, rauh geschnitzte, zweizackige, hölzerne Gabel, damit es ihm ein Leichtes sei, sich bei der Auferstehung (Techias hamessim), auf welche jeder Jude gemäß dem 12. und 13. Glaubenssatze (schlauschoh ossor ikanim) zuversichtlich rechnete (s.Anm.5), durch die Erde nach Jerusalem oder dem Gan Eden (Paradies, d.i. Gefilde der Seligen, des Friedens) durchzuwühlen (Jesaias, K. 26, V. 19 und Jecheskel K. 37, V. 5-10).
Viele aus Palästina heimkehrende arme jüdische Pilger pflegten einige Pfund Erde mitzubringen, welche von den Chassidim gerne gekauft wurde, damit sie ihnen in den Sarg unter den Kopf gelegt werde, weil sie sich dadurch, wie sie glaubten, viel leichter nach dem heiligen Lande zur dereinstigen Auferstehung werden fortwälzen können. Ein ähnlicher Aberglaube besteht bei manchen Regenten darin, daß sie besonderen Wert darauf legen, ihre neugeborenen Kinder mit Jordanwasser taufen zu lassen.
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Das Leichenbegängnis war bei allen Juden, ohne Unterschied, ob reich oder arm, einfach und schmucklos; Kränze und Blumenspenden waren nicht gestattet. Es war damals Sitte, daß die Eltern bzw. die Frau, die Kinder und Geschwister des Verstorbenen zur Beerdigung alte, verschlissene Kleider trugen; in den Klappen der Röcke und Westen machte ihnen der Liberer am Grabe des Verstorbenen tiefe Einschnitte; man nannte dies: „Krios schneiden“ 1).
Bevor die Teilnehmer an dem Leichenbegängnis den Friedhof verließen, pflückten sie Grashalme vom Rasen, warfen diese rücklings über die Schulter, als Symbol, damit das Traurige zurückbleibe und nicht in das eigene Heim dringe und sprachen die Worte: „W’jozizu meeir, keezes hoorez“, d.i. die Toten werden bei der Auferstehung aus ihrer Behausung herauskommen, wie das Gras aus der Erde.
Die ersten sieben Tage nach der Beerdigung hielt man strengste Trauer im Krankenzimmer des Verstorbenen. Früh und abends betete man daselbst mit Minjan, d.i. in Anwesenheit von zehn mindestens 13 Jahre alten männlichen Personen — die für einen öffentlichen Gottesdienst erforderlich sind — und sagte Kaddisch.
Kaddisch ist das schönste und herrlichste Sterbegebet; es vermeidet streng jede Anspielung auf Tod und Schmerz und enthält die höchste Verherrlichung des Ewigen, dessen unerforschlichem Ratschluß sich die Leidtragenden in Demut unterwerfen. Deshalb wurde das Kaddischgebet nicht nur während des Trauerjahres, sondern auch an jeder Wiederkehr des Todestages, d.i. am Jahrzeittage — für welchen ein hebräischer Ausdruck nicht existiert — verrichtet. Im Laufe der Zeit wurde der Kaddisch seitens der Rabbiner zwischen den einzelnen Gebetsabschnitten eingeschaltet als Hymne über die Heiligkeit Gottes und als Bitte um Frieden für ganz Israel.
Man trug nur alte, dunkle Kleidungsstücke und Hausschuhe und saß auf Fußschemelchen. Man nannte dies Schiwoh-Sitzen (sieben Trauertage). Während der Trauerwoche kamen Verwandte und Bekannte zu Besuch, um „menachem owel sein“, d.i.die Trauernden zu trösten.
Kranke zu besuchen (bikur cholim), Tote zur letzten Ruhestätte zu begleiten (halwojas haames) und den Leidtragenden Teilnahme zu beweisen (menachem owel sein), zählten zu den Hauptpflichten der Juden (Pirke owaus, Kernsprüche der Väter).
Es war üblich, daß man den Leidtragenden sehr gute Speisen schickte, einesteils, damit sie sich an diesen erfreuen und stärken und ferner, weil sie in der Trauerwoche keine geschäftliche Tätigkeit verrichten durften, somit, selbst wenn sie arm waren, auch nichts verdienen konnten. Eine schöne Sitte war es und zeigte von Zartgefühl gegen die Armen, daß man im Trauerhause zwei Büchsen aufstellte. In die offene wurde seitens der Chewra Kadischa ein größerer Geldbetrag eingelegt, je nach der Bedürftigkeit der Leidtragenden; die verschlossene war dazu bestimmt, die Spenden der Kondolierenden aufzunehmen, denen es selbstverständlich freistand, auch in die offene Büchse Geld einzuwerfen.
Der Inhalt der offenen Büchse verblieb den armen Leidtragenden, während die geschlossene Büchse der Chewra Kadischa rückgestellt wurde. Reiche Leidtragende gaben beide Büchsen der Chewra Kadischa zurück, damit sie den Inhalt derselben an anderweitige Arme verteile (Dr.Fürst: „Sitten und Gebräuche in Eisenstadt“). Die Sitte betreffs der beiden Büchsen soll noch jetzt in Berlin seitens des seit mehr als 150 Jahren bestehenden Vereins „Mischaun awelim“ gehandhabt werden.
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Die männlichen Leidtragenden gingen am Freitag der ersten Trauerwoche zum Maariv-Gebete (Abendgottesdienst) in die Synagoge; sie warteten in der Vorhalle bis nach Beendigung des Lecho daudi (eine Hymne zur Verherrlichung des Sabbat, verfaßt von dem Dichter Salomon ben Halevy). Der Rabbiner sprach sie daselbst mit den Worten an: „Hamokaum jenachem eszchem beszauch awele zijaun wijruscholojim“, d.i. der allgütige Gott möge euch trösten und alle, welche um Zijaun und Jerusalem trauern.
Nach dieser Anrede betraten sie die Synagoge und nahmen nicht ihre bisherigen Sitze ein, sondern die der Nachbarn oder der Bekannten; diese Platzveränderung hielt während des ganzen Trauerjahres an.
Die auf die Trauerwoche folgenden drei Wochen bildeten zusammen das sogenannte „Schlauschim“ (dreißig Tage, V.Moses, K.34, V.8).
Erst nach dessen Ablauf durften die Leidtragenden ihr Haupt- und Barthaar scheren lassen.Auf die Gold- oder Silberborte des Tallis wurde ein schwarzes Band genäht.
Während der dreißig Trauertage ließ man eine Öllampe neben dem Bette des Verstorbenen brennen; bei diesem Seelenlicht stand ein Glas mit Wasser und daneben lag ein kleines Handtuch, welches in der Regel aus dem Khittel herausgeschnitten wurde, damit die Seele, deren zeitweilige Wiederkehr in die gewohnte Behausung man während des Trauermonats voraussetzte, sich symbolisch reinigen könne.
Es war üblich, daß die Frau des Gabai Rischaun die Würde einer ersten Gabatin (Vorsteherin) bei den Noschim Zidkoniaus (Verein der frommen Frauen für weibliche Krankenpflege etc.) bekleide.
Zu ihren Vorrechten gehörte es unter anderem, daß sie bei einer Hochzeit der Braut nach stattgefundenem Segensspruche des Rabbiners das Decktuch bei dem sogenannten Bedecken, welches in der elterlichen Wohnung stattfand, auf den Kopf legte, und ferner, daß sie die Braut unter die Chuppa führte und sie daselbst, die Brautkrone vor ihr hertragend, dreimal um den Bräutigam herumführen durfte 1).
Die Brautkrone bestand aus einem Drahtgestelle in Form einer Krone, welche mit buntfarbigen Wachskerzchen überflochten und mit kleinen silbernen Glocken behangen war. Die Wachskerzchen wurden knapp vor Beginn der Zeremonie angezündet 2).
Die Brautkrone sollte die Braut unter dem Trauhimmel während der Trauung und bis nach Beendigung der Hochzeitstafel auf dem Kopfe tragen. Gemäß späterer, nach orientalischer Sitte und aus engherzigen ethischen Gründen stattgefundener Anordnung mancher Rabbiner, daß der Braut das Haupthaar abgeschnitten und das Decktuch aufgelegt werden sollte, durfte die Brautkrone nicht mehr aufgesetzt werden; sie wurde nur bei der Trauung dreimal um die Braut herumgetragen. Die Anordnung betreffs des Decktuches wurde nicht überall befolgt. Nach Mitteilung des Herrn Rabbiners Dr. Kanter in Zwittau wird noch in der Jetztzeit jeder in der Alt-Neusynagoge in Prag getrauten Braut die Brautkrone aufgesetzt.
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Die Großmutter hatte einen mit Gold- und einen mit Silberdraht durchwirkten Brokatspenzer und eine mit Gold- und eine mit Silberdraht übersponnene, mit Flitterchen besetzte Haube, wie solche noch gegenwärtig in vielen Gegenden Hollands und der Schweiz üblich sind.
Das goldene Kostüm trug sie an den drei hohen Festtagen und bei Trauungen von Familianten und das silberdrähtige am Sabbath und bei Trauungen von Emigranten.
Bis in das erste Drittel des Jahres 1849 bestand bezüglich des Heiratens ein numerus clausus.
Für Mähren und die schlesische Enclave Hotzenplotz waren ursprünglich bloß 5106 Familien systemisiert; sie wurden jedoch laut Patent Kaiser Josefs II. vom 17.November 1787 auf 5400 Familien erhöht (Dr.Haas: „Die Juden in Mähren“, Brünn 1900).
Nur die erstgeborenen, ausnahmsweise auch die zweitgeborenen Söhne von Familianten (das waren jene Ehepaare, welche mit Erlaubnis des Brünner Guberniums getraut waren), durften gesetzlich heiraten.
Die Erlangung einer solchen Familiantenstelle — diese war die Vorbedingung zum Heiratskonsens — war oft erst nach jahrelangen Bewerbungen möglich.
Das Brautpaar mußte dem Heiratsgesuche nebst anderen Belegen (z.B. daß der Bräutigam irgend einen Hausanteil besitze, selbst wenn dieser nur aus einer Stube bestand — daher der spätere Titel Bal habos (verstümmelt aus Bajis = Haus) — auch ein Zeugnis über die Kenntnis des Bne Zion (so hieß das im Jahre 1811 vorgeschriebene moralische Lesebuch über jüdische Religion) erbringen, sonst wurde es einer nochmaligen Prüfung unterzogen (Scari, § 20).
Diese Prüfung dürfte der erste Wermutstropfen in den Freuden des Brautstandes gewesen sein.
Es ist mir erinnerlich, daß der Heiratskandidat Wolf Briess in Prerau, ein Neffe des berühmten früheren Landesrabbiners Abr. (Placzek, trotzdem er der einzige Sohn des verstorbenen Familianten Isak Briess und seiner Ehegattin Rachel, geb.Placzek war, sich sechs bis acht Jahre um die Familiantenstelle bewarb (für Prerau waren vom Jahre 1798 bis 1848 bloß 44 Familiantenstellen systemisiert, siehe Dr.Haas, pag.62). Er setzte dabei fast sein ganzes Vermögen zu und als er endlich gegen Ende des Jahres 1848 obsiegte, erschien am 4.März 1849 das Patent, durch welches sämtlichen großjährigen ledigen Juden das Heiraten gestattet wurde.
Den anderen Söhnen war dies vorher nicht erlaubt, und wenn sie trotzdem heirateten, geschah es nur heimlich; die rituelle Trauung wurde in einem versperrten Zimmer vorgenommen. Der Staat betrachtete eine derartige Ehe (s.Anm.7) nur als Konkubinat und die aus ihr hervorgegangenen Kinder als unehelich.
Es war ein Glück, daß es zur damaligen Zeit noch keine offizielle Statistik gegeben hat, sonst wären die Juden hinsichtlich der Unmoralität wegen der zahlreichen, staatlich stigmatisierten unehelichen Kinder an erster Stelle gestanden, während sie sonst wegen des Religionsbekenntnisses an vorletzter Stelle, d.i. vor den Zigeunern, zu stehen kamen. Denn in den damaligen geographischen Lehrbüchern hieß es stets: „In N.N. wohnen z.B. 5000 Katholiken, 1500 Protestanten, 1000 Juden und 800 Zigeuner“.
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In den dem Hochzeitstage vorangehenden sieben Tagen, Mastwoche genannt, wurde das Brautpaar mit guten Speisen und Backwerk beschenkt.
Ich erinnere mich an Familiantentrauungen, welche unter freiem Himmel im Hofraume der Synagoge stattfanden und an Emigrantentrauungen im verschlossenen Zimmer.
Infolge falscher Deduktionen mancher Rabbiner des Mittelalters und infolge Anspielung des Krakauer Rabbiners Mosche Isserls auf den Satz: I. Moses, K.26, V.4: „Whirbessi es Sarahcho ke kauchwe haschomajim“, d.h.bildlich: „Ihre Nachkommen mögen so zahlreich werden wie die Sterne am Himmel“ waren die Trauungen unter freiem Himmel vorzunehmen („Kochba Jitzchak“ 6.Heft). Wann in Prerau die Trauungen unter freiem Himmel abgestellt wurden, ist meinem Gedächtnis entfallen.
Die Trauung selbst braucht nicht unter einer Chuppa stattzufinden, da sogar die älteren Rabbiner sich über den Ausdruck und die Form der Chuppa nicht klar sind (siehe ibidem S. 103).
Sowohl bei Familianten- als auch bei Emigrantentrauungen stand der Bräutigam, mit dem Khittel und Khittelhäubchen bekleidet, unter dem Trauhimmel. Diese beiden Kleidungsstücke und den Tallis erhielt in der Regel jeder Bräutigam von den Schwiegereltern geschenkt.
Meine gottselige Großmutter ging in gewohnter ernster Weise, die Brautkrone, deren Kerzchen angezündet waren, in den Händen tragend, vor der Braut einher. Diese wurde von ihr und den zwei anderen Unterführerinnen dreimal um den Bräutigam geführt. Die zwei Unterführerinnen waren in der Regel die beiden Mütter des Brautpaares.
Bei Familiantentrauungen wurden Braut und Bräutigam getrennt aus der elterlichen Wohnung oder von dem Einstandshause — falls der Bräutigam aus der Fremde war — mit Musik zur Synagoge begleitet; sie fasteten an diesem Tage bis nach der Trauung, deren Zeremonien ziemlich lange dauerten, da der Rabbiner es sich nicht nehmen ließ, die in hebräischer Sprache abgefaßte Ksubo (d.i. die Beschreibung der gegenseitigen Rechte und Pflichten nach jüdischem Ritus) von A bis Z mit Pathos vorzulesen.
In manchen jüdischen Gemeinden zertrat der Bräutigam nach der Trauungszeremonie noch unter der Chuppa stehend ein in eine Serviette eingewickeltes Glas als Symbol, daß das Glück der Ehe auch gebrechlich sein kann (z.B. „Das Glück von Edenhall“). Die Glasstücke erhielten die Verwandten und Bekannten als Zeichen der Aufmerksamkeit 1).
Jüdische Hochzeiten fanden meistens am Dienstag statt; dieser Tag wurde als Glückstag (Kitow) d.i. als ein Gott gefälliger betrachtet (I.Mos., K.1, V.12).
Wenn es am Hochzeitstage regnet, sei die Braut genäschig, und doch liegt ein tiefer Sinn diesem Sprichwort zugrunde: Bekanntlich ist der Himmel bei Regenwetter dunkel und da das Naschen als eine Untugend bezeichnet wird, so werde sie nur im Dunkeln begangen, weil „im Dunkeln gut munkeln sei“; dagegen glaubt man in vielen protestantischen Gegenden, daß es für eine Braut Glück bedeute, wenn es in ihren Hochzeitskranz regnet (Wilh. Arminius: „Die Laterne“).
Wenn das junge Ehepaar aus der Synagoge nach Hause kam, speiste es sogleich, da es seit Tagesbeginn gefastet hatte, u. zw. an einem eigenen Tische. Das Menu bestand aus einer kräftigen Suppe und einem jungen Huhn; die eigentliche Hochzeitstafel wurde entweder im elterlichen Hause der Braut oder in einem gemieteten großen Saale abgehalten.
Die Speisen, namentlich die obligaten Hochzeitsfladen, bereitete man unter Mithilfe des Weibes des Liberers, welches gewöhnlich eine tüchtige Köchin war, drei bis vier Tage vorher.
Der Fladen war eine Spezialität der jüdischen Küche; er war rund, ca. 8 cm hoch und hatte sechs bis sieben Lagen, abwechselnd aus Äpfeln, Birnen, Pflaumen, Kirschen, Leckwar (Powidl), Pfirsich, Marillen bestehend, welche je durch ein fettes, gewalktes, mit Rosinen und Lebzelt bestreutes Teigblatt von einander getrennt waren.
Gedecke und Eßbestecke wurden, insoweit man solche nicht selbst besaß oder von Verwandten geborgt erhielt, vom Liberer beigestellt, wofür ihn — da er gleichzeitig beim Servieren der Speisen aushalf — die Eltern des Brautpaares und die Gäste reichlich entschädigten.
Da „ein ernster Gast zum Hochzeitsschmaus nicht paßt“, so kamen bei Hochzeiten reicher Leute entweder auf Bestellung oder aus eigener Initiative sogenannte „Schalksnarren“ (Improvisatoren), welche während der Tafel durch ihre verfänglichen Knittelverse das Brautpaar und durch Nachahmung ihrer Eigenheiten viele Hochzeitsgäste in Verlegenheit versetzten.
Ihr Hauptwitz bestand darin, die im Speisesaale aufgestellten Hochzeitsgeschenke mit den Namen der Spender auszurufen, sie den anwesenden Gästen zu zeigen und dabei ihre Glossen zu machen (Sigm.Mayer: „Ein jüdischer Kaufmann“, Wien 1911). Je nach dem erzielten Beifall wurden sie entlohnt; in der Weinlaune wurde manche gar zu derbe Anspielung überhört.
Der Rabbiner wurde erst bei dem Bratengange abgeholt, um ihm vorher die Unannehmlichkeiten des Ordnens und Platznehmens zu ersparen (Dr.Fürst). Er brachte in der Regel den ersten, an den Wochenabschnitt oder den Midrasch anknüpfenden Toast auf die Neuvermählten und auf deren Eltern aus; denn in den Sprüchen der Väter heißt es (Kap.3, V.4): „Wenn drei Personen an einem Tisch speisen, sollen sie durch religiöse moralische Gespräche den Akt des Essens veredeln, wodurch er aufhört ein tierischer Genuß zu sein“.
Nachher begannen die offiziellen und wilden Toaste.
Sobald das Hochzeitsmahl vorüber war, verrichtete der Chasan das Tischgebet mit fröhlichen (heiteren) Melodien.
Die Hochzeitsfeier dauerte häufig bis Donnerstag nachmittag; beim Abschied erhielt jeder Gast ein großes Stück Fladen und Kleinbackwerk, darunter „resche Gruten“, zum Mitbringen für die Daheimgebliebenen. Resche Gruten waren runde, dünne, weiße Holzstäbchen, welche mit gebackenem Teig umwickelt, in einem runden Kuchen standen und an der Spitze mit Buchsbaumzweigen umwunden waren. Sie wurden resche (rasch gebackene) Ruten genannt im Gegensatze zu den gewöhnlichen Birkenruten für die schlimmen Buben.
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Anders als die Hochzeiten der Familianten waren die der Emigranten sehr einfach und still, damit der Oberamtmann oder die Behörde ja nichts von dem ungesetzlichen Vorgange erfahre. Später war es manchem Emigranten-Ehepaare vergönnt, sich für die seinerzeit in Stille und Heimlichkeit erfolgte Trauung schadlos zu halten.
Nach der im Jahre 1849 erfolgten Aufhebung des der Menschlichkeit und der Natur hohnsprechenden numerus clausus (s.Anm.8 und Dr.Frankel Grün, K.VIII), welcher indirekt fast denselben Zweck verfolgte wie die Ertränkung der jüdischen Knaben zur Zeit der Pharaonen, ließen sich die meisten Emigranten-Ehepaare in legaler Form trauen, damit sie ihren Kindern dadurch die Rechte ehelicher Deszendenten verschafften; es mutete sonderbar an, wenn mitunter erwachsene Söhne und Töchter bei der Hochzeitstafel ihrer Eltern anwesend waren und bei der nachher stattfindenden Tanzunterhaltung der vielleicht schon großjährige Sohn mit der Mutter und die erwachsene Tochter mit dem Vater den Ehrenreigen eröffnete.
Nach dem Ableben meines Großvaters führte die Großmutter, um ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu wahren, den Lederausschnitt in Verbindung mit dem Einkauf von Alteisen weiter und es kam nicht selten vor, daß man ihr die soeben verkauften Eisenstücke nach wenigen Minuten neuerdings verkaufte, weil ihr Augenlicht geschwächt war und sie nicht bemerkte, daß der Verkäufer den größten Teil des kurz vorher verkauften Alteisens heimlich an sich nahm und ihr bald darauf wieder brachte.
Ihre Buchhaltung war charakteristisch; wenn sie sich an den Namen des ihr bekannten Lederkäufers (d.i. des Schuhmachers) nicht sofort zu erinnern wußte, so schrieb sie in das mit jüdischen Buchstaben geführte „Saldo Konto“ kurz: „Der Mann mit dem blauen Mantel in N.N.“ oder „Die Goijte (die Schuhmacherin) mit dem grünen Tuch in N.N. schuldet … Gulden“. Die Einbringlichkeit solcher Außenstände kann man leicht ermessen.
Bei den Lokokunden, welche täglich oder mehrmals in der Woche Leder auf Borg bezogen, schrieb sie den jeweiligen Betrag mit Kreide an das Türfutter, um ihn dann am Wochenende summarisch zu übertragen. Mancher findige Kunde verstand es, die Summe zu reduzieren, indem er einfach zwei bis drei Posten wegwischte.
Eine derartige Ankreidung soll sogar in der Gegenwart noch hie und da in mancher Dorfwirtschaft für Stammgäste vorkommen, mit dem Unterschied, daß es in diesem Falle der Wirt ist, der die Saldi hinaufzusetzen versteht. (Hinauf- und Herabsetzen sind geschäftliche Ausdrücke jüngster Zeit, bisher sagte man: Schuldverkleinerung resp. Schuldvergrößerung.)
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Die Großmutter erreichte bei ziemlich guter Gesundheit ein Alter von 98 Jahren; leider erblindete sie in den letzten Lebensjahren fast gänzlich und war infolgedessen still und in sich gekehrt.
Wenn sie bei guter Laune war, erzählte sie den Enkeln auf deren Bitte, welche Aufmerksamkeiten ihr der Großvater als Bräutigam erwiesen hatte. Er trug sie nämlich einmal an einem Sabbat nach einem plötzlichen Regenguß über eine Kotlache, damit sie sich die Feiertagsschuhe nicht beschmutze und ein andermal durch die reißenden Fluten der nach einem Wolkenbruch bis in die Judengasse ausgetretenen Beczwa (s.Anm.9), von einer Straßenseite zu der gegenüberliegenden; auch zitierte sie wörtlich den ersten als Braut von ihm erhaltenen Liebesbrief, in welchem er, da er geschäftlich längere Zeit in Nikolsburg weilen mußte, den seinerzeitigen Städtegründer verwünschte, daß er Nikolsburg so entfernt von Prerau angelegt hatte.
Ebenso erzählte sie, daß Kaiser Josef II. sie gelegentlich seiner Reise durch Prerau mit den Worten „Mein schönes Kind“ angesprochen habe und daß sie im Dezember des Jahres 1805 zur Zeit der Drei-Kaiser-Schlacht bei Austerlitz mit vielen anderen Leuten auf einen in der Nähe von Prerau gelegenen hohen Berg gestiegen war, von wo man den Kanonendonner hörte. Sie konnte sich somit auf einen Zeitraum von ca. 90 Jahren erinnern, wodurch die Tatsache bestätigt wird, daß die in der Jugend erhaltenen Eindrücke sich dem Gedächtnisse dauernd einprägen und daß man selbst im Greisenalter sich an Vorgänge und Szenen erinnert, die man als Kind von fünf bis sechs Jahren erlebt und wahrgenommen hat.
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Zur Beleuchtung der damaligen Gepflogenheiten führe ich an, daß die Großeltern dem Gatten der zweitältesten Tochter, d.i. dem Lehrer und Leiter der jüdischen Trivialschule in Prerau (so hieß offiziell die deutsche Elementarschule) der bescheidenen Mitgift und seiner geringen Einkünfte wegen durch drei Jahre Kost und Quartier in dem rückwärtigen Zimmer ihrer dreizimmrigen Wohnung gewährten.
Da die Frau des Lehrers die gemeinsame Küche besorgte, so war es selbstverständlich, daß die „Kost“ ihres Mannes auf „Kosten“ aller anderen Familienmitglieder eine lukullische war.
Moses und Anna Bruck, die Eltern meiner gottseligen Mutter, scheinen ursprünglich in Prerau im eigenen Hause XIII a gewohnt zu haben.
Über die geschäftliche Tätigkeit daselbst nach ihrer am 13.Mai 1810 stattgefundenen Vermählung kann niemand mehr Auskunft geben; später soll der Großvater mit Frau und Kindern nach Proßnitz übersiedelt sein, woselbst er kaufmännischer oder technischer Leiter der renommierten Ehrst.Tuchfabrik war.
Die gottselige Mutter wurde mit den Töchtern des Chefs erzogen und hatte infolgedessen eine sonst bei Mädchen ihres Standes ungewöhnliche Bildung genossen.
Ihr letzter Instruktor im Ehrst.Hause war der Rabbinatskandidat M. Stern (Dr.Frankel Grün, Buch III), welcher später die einzige Tochter des reichen Weinhändlers Hartm. in Kremsier heiratete. Ich erwähne dies deshalb, weil es in damaliger Zeit nicht selten war, daß reiche Juden arme aber gebildete junge Leute als Schwiegersöhne in ihr Geschäft nahmen.
Ein oder zwei Jahre vor dem im Jahre 1828 erfolgten Zusammenbruch des Ehrst. Hauses unter den Söhnen des verstorbenen Gründers, dessen geschäftliche Prinzipien ihnen veraltet schienen (s.Anm.10), übersiedelten die Großeltern nach Iglau.
Der Großvater besaß als Autodidakt ein eminentes jüdisches und deutsches Wissen — er war Moreno, d.i. Gelehrter im Talmudischen. Moreno war ein jüdischer Titel, welcher nur sehr gebildeten Leuten seitens des Lokalrabbiners verliehen wurde und mit welchem der Inhaber zur Thora aufgerufen wurde; hervorragende Talmudisten, Ärzte, Juristen hatten Anspruch auf diesen Titel. Der Rabbiner führte den Titel Mauro Maureno Raw (d.i. der Lehrer, unser gelehrter Rabbi). Die halbwegs Gebildeten wurden, besonders nach ihrer Verheiratung, mit dem Worte Hachower N.N. zur Thora aufgerufen.
Ein in schöner Schrift von ihm im Jüdischen Museum in Wien aufbewahrter Brief aus dem Jahre 1844 (s.Anm.11) zeigt einen klassischen Stil.
Er scheint ein selbständiges Geschäft mit Tuch und sogen. „Schwonerlen“ (eine Iglauer Spezialität) betrieben zu haben, mit welchem er aber kein Glück gehabt haben dürfte.
Ich entsinne mich, daß er eines Tages gelegentlich seines 70. oder 80. Geburtstagsfestes erzählte: „Heute sind meine sämtlichen Gläubiger (denen er die rückständig gebliebenen Beträge mit Zins und Zinseszinsen von seinem Gehalte nachzahlte — er war nämlich nach Auflösung seines Geschäftes kaufmännischer Leiter in dem renommierten Großhandlungshause Turn) gänzlich befriedigt; die Bestätigungen hierüber mögen meine Kinder und Enkel als Zeichen ehrlichen Strebens und Könnens dauernd aufbewahren.“
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Der Großvater war freisinnig, dabei sehr religiös und wohltätig.
Er war praktischer Mohel (Beschneider); nach seinem Ableben fand sich ein sogenanntes „Mohelbüchel“ vor, in welchem mehr als hundert Beschneidungen verzeichnet waren, die er unentgeltlich vorgenommen hatte. Das Mohelbüchel wurde später seitens der Interessenten bei Richtigstellung der hie und da mangelhaft geführten Geburtsmatriken benützt.
Er fuhr zu armen Leuten, welche in entfernten Dörfern wohnten, auf eigene Kosten, und opferte häufig zwei bis drei Tage, wenn die Beschneidung auf einen Samstag oder jüdischen Feiertag fiel, weil er an diesem Tage nicht hin- bzw. zurückfahren durfte.
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Wo Synagogen bestanden, mußten Beschneidungen in diesen vorgenommen werden (Scari § 43). Die Gevatterin trug den Säugling nur bis zum Haupteingang, weil nach alter orientalischer Sitte der Eintritt von Frauen in die „Männerschul“ (so hieß die Synagoge) verpönt oder nicht üblich war.
Der Chasan rief „boruch haboh“ (gesegnet sei der Angekommene) und dann wurde der zukünftige Israelite vom Gevatter zum Zandekoaussitze (ein gepolsterter, freistehender, breiter Sessel) getragen. Das Zandekoaus (das Halten des Kindes während der Beschneidung) wurde als besondere Mizwo (gottgefälliges Werk) betrachtet, und aus religiösen Gründen wurden Trauernde (Owelim) damit beehrt.
An den Tagen, wo eine Brismilo (Beschneidung) beim Schachrisgottesdienst stattfand, hatte der Mohel das Recht, die ganze Schiro (das Siegeslied über die Ägypter nach deren Untergang im Schilf-Meere s. II.Mos., K.15,V.21) von: „wechorans immau habris bis kaunenenu jodechu“ (Gott schloß mit Abraham einen Bund, dessen Endziel die Errichtung einer gottgeweihten Stätte war) mit der traditionellen Melodie laut herzusagen und ebenso vor und nach dem Beschneidungsakte die üblichen Segenssprüche vorzutragen.
Während der Operation warf die Gevatterin Nüsse und Backwerk den in der Schul anwesenden Knaben zu, welche sich in gewohnter Weise darum balgten.
In dem Segensspruch nach der Beschneidung wurde der jüdische und deutsche Name des Neugeborenen genannt; in der Regel war ersterer der Name eines verstorbenen nahen Verwandten, denn bei Lebzeiten des Vaters durfte der Sohn nicht den gleichen Vornamen tragen, im Gegensatz zu den Andersgläubigen.
Es war üblich, daß an dem der Beschneidung vorangehenden Freitagabend nach dem Nachtmahl der Sochor (Erinnerungsimbiß) gefeiert wurde, d.i. Verwandte und Bekannte gratulierten der Wöchnerin und wurden mit Wein und Backwerk bewirtet.
In der Nacht vor der Beschneidung kam der Mohel in Begleitung des Gevatters abermals zur Wöchnerin, besichtigte den Knaben, ob er kräftig und normal gebaut sei, ließ das Operationsmesserchen daselbst bis Mitternacht und verrichtete beim Weggehen ein kurzes Gebet, damit die Dämonen weder der Mutter noch dem Kinde etwas Böses zufügen können.
An den vier Wänden des Wöchnerinnenzimmers (Wochenstube) waren längliche gedruckte oder geschriebene Zettel befestigt, auf denen kabbalistische Sprüche und der 121.Psalm standen. In den vier Ecken des Zettels befanden sich die Worte: „M’chaschefoh lau szchaje“ (II.Moses, K.22, V.17(?)), d.i. „der Dämon soll weder der Mutter noch dem Kinde etwas Schlimmes zufügen können.“
Da bei den meisten jungen Ehepaaren sich der Familienzuwachs fast regelmäßig alle zwei Jahre einstellte, trotzdem die Mütter selbst stillten (jüdische Ammen waren schwer erhältlich und christliche durften — selbst im Notfalle — erst seit dem Jahre 1825 genommen werden; s. Scari § 172), so dürfte man derartige Zettel auf Lager gehalten haben. Vielleicht waren sie sogar ein Requisit der Ausstattung!
Nach der Beschneidung fand in der Wohnung der Wöchnerin bei armen Leuten ein bescheidenes Frühstück oder bei reichen neben dem Frühstück auch ein opulentes Mittagessen (eine milchige und fleischige Szude) statt, bei welchem der Rabbiner eine Ansprache hielt, anknüpfend an den Wochenabschnitt der Thora, und der Mohel Toaste für die glückliche Zukunft des Neugeborenen ausbrachte.
Die Mohelim waren Dilettanten und besorgten die Beschneidung in der Regel nicht nur unentgeltlich, sondern kamen durch volle vier Wochen fast täglich nachsehen, ob die Operationswunde natürlich heile.
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In Prerau war zu meiner Zeit Herr Ernst Pollak der beliebteste Mohel. Er dürfte mehrere hundert Beschneidungen unentgeltlich und mit glücklichem Erfolge vorgenommen haben.
Auch war es bekannt, daß er und seine leutselige, wohltätige Gattin arme Wöchnerinnen mit nicht unbedeutenden Beträgen unterstützten und kleinen Geschäftsleuten Geld — ohne Zinsen — borgten, damit sie bei den Großkaufleuten pünktlich bezahlen und billig einkaufen können.
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Es gab damals — wie noch gegenwärtig — drei Kategorien von jüdischen Geschäftsleuten. Der Inhaber eines Gewölbes besorgte seine Einkäufe am Olmützer oder Brünner bzw. Prager oder Pilsner Jahrmarkte direkt beim Fabrikanten; der Hausierer kaufte sodann von diesem Engrossisten, d.i. aus zweiter Hand, und mußte ihm pünktlich einige Tage vor den betreffenden Hauptmärkten zahlen, während der arme Dorfgeher (Pinkeljud genannt) in den Dörfern aufkaufte, was sich ihm darbot (Tierbälge, Eisen, Messingabfälle etc.); er trachtete die gekauften Gegenstände entweder noch Freitag nachmittags, spätestens aber Samstag nach der Habdala oder Sonntag vormittags am Wohnorte zu verkaufen, um seinen Gläubiger zu bezahlen, der ihm sonst bei Unpünktlichkeit nie wieder etwas geborgt hätte. Manche konnten nur gegen Pfand und Zinsenzahlung Darlehen erhalten (s.Anm.12).
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Trotz der Tüchtigkeit der praktischen Mohelim und deren Uneigennützigkeit war es dennoch nach dem Jahre 1848 eine weise Vorschrift der Behörde, daß nur geprüfte Mohelim, in der Regel Chirurgen oder graduierte Ärzte, die Operation vornehmen durften. Die Taxen waren sehr bescheiden; bei Armen wurde hievon ganz abgesehen.
Wenn der beschnittene Knabe ein Erstgeborener war und dessen Eltern oder dessen Vater weder dem Ahroniden- (Priester) noch dem Levitenstamme angehörten, so fand nach vier Wochen in der elterlichen Wohnung in Anwesenheit eines Kohen (ein Mann aus der Priesterkaste) und noch anderer neun männlicher Personen, welche das dreizehnte Lebensjahr zurückgelegt hatten (Minjan), das sogenannte Pidjan habenn statt, d.i. symbolisch die Loslösung des Erstgeborenen, welcher nach der biblischen Vorschrift (II.Moses, K.13, V.2 und K.22, V.28) dem Gottesdienste geweiht sein sollte, von dieser religiösen Verpflichtung.
Der Kohen erteilte dem Kinde den Segen und erhielt nachher von dessen Vater ein Lösegeld von cirka hundert Münzstücken, welche 5 Schökeln à 20 Gera (II.Moses, K.30, V.13), d.i. den Münzen im jüdischen Altertum, annähernd gleichwertig sein sollten; gewöhnlich waren dies bei reichen Leuten cca. hundert Groschen, bei armen Leuten cca. 100 Kreuzer. (Die Zahlenordnung und die Hohlmaße des biblischen Judentums entsprachen dem metrischen System, s.Dr. Blochs Wochenschrift v.10.März 1913.)
Ein armer Kohen behielt das Lösegeld für sich, ein reicher gab es armen Leuten. Am vierten Samstag nach der Entbindung ging die Wöchnerin zum Mussaphgottesdienste in die Synagoge. Der Gatte wurde aufgerufen, er ließ für seine Frau einen Mischeberach (Segensbitte an Gott) machen und dem neugeborenen Kinde (wenn es ein Mädchen war) einen jüdischen und deutschen Namen geben bzw. nennen.
Nachmittag war für die Besucherinnen offene Tafel (Aufstand genannt), wobei Backwerk und Likör herumgereicht wurde.
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Die gottselige Großmutter stammte aus einem wohlhabenden Hause. Sie war das einzige Kind ihrer Eltern; diese waren Besitzer der Rande in Löschna bei Mähr.-Weißkirchen (s.Anm.13).
Die Großeltern mütterlicherseits, welche ein glückliches Eheleben à la Philemon und Baucis führten, erreichten ein hohes Alter; sie starben hochgeehrt und allgemein betrauert nach kurzem Krankenlager in Intervallen von cirka acht Tagen, wie sie es bei Lebzeiten im Stillen oft gewünscht hatten, damit der Überlebende nicht lange allein zurückbleibe.
Sie wurden in Puklitz beerdigt und zwar der Großvater Freitag, den 10.April 1863 und die Großmutter Sonntag den 19. April 1863, da es damals in Iglau keinen jüdischen Friedhof gab (s.Anm.14).
Über die beiderseitigen Urgroßeltern kann ich leider gar nichts berichten. Man hatte in damaliger Zeit keinen Sinn für die Familiengeschichte, und weiter als bis zu den Großeltern reichte die Erinnerung keines Einzigen (Sigm.Mayer: „Die Wiener Juden 1700/1900“).
Es ist dies sehr bedauerlich, denn dadurch fallen Familientraditionen, die nur von Mund zu Mund überliefert werden, der Vergessenheit anheim (Dr.Theodor Haas, „Jüd. Volksstimme“ v.2.IX.1920).
„Scheal owicho, wejagedcho.“
„Frage deinen Vater und er wird dir sagen.“
(V.Moses, K.32, V.7)
Meine gottseligen Eltern hießen Jakob und Betti Briess.
Teils aus Indolenz, mehr jedoch aus Ehrfurcht und Achtung vor den Eltern und aus Angst ihrer Unnahbarkeit wegen — in manchem Hause sagten die Kinder nur „Sie“ zu den Eltern — hat es trotz des vorstehenden Mottos in früherer Zeit kein Kind gewagt, selbst wenn es schon erwachsen oder gar verheiratet war, diese über ihre Beschäftigung vor der Ehe und über ihre geschäftliche Tätigkeit in den ersten Jahren ihrer Ehe zu befragen.
Ich hörte erst nach langer, langer Zeit, daß der gottselige Vater nach der Barmizwa einige Jahre auf der Jeschiba (Schule für höheres Talmudstudium) in Preßburg verbrachte, woselbst er sich unter dem berühmten und als streng orthodox bekannten Rabbiner Schreiber zum hervorragenden Talmudisten ausbildete.
Profanes deutsches Wissen hat er sich auf autodidaktischem Wege angeeignet; die Bachurim (Talmudschüler) durften dortselbst (d.i. in Preßburg) „Deutsch“, welches streng verpönt war, nur im Geheimen studieren. Viele Bachurim lernten privatim die Gymnasialgegenstände, maturierten dann auf einmal in Preßburg und studierten nachher an einer Universität, meistens in Krakau oder in Graz. Manche brachten es sodann zu angesehenen Stellungen, besonders wenn sie vor der Bewerbung einen Glaubenswechsel vollzogen hatten (s.Anm.15).
Welchen Beruf mein Vater bis zu seiner Verheiratung ausübte, ist heute nicht mehr zu ermitteln.
Seine Gattin — meine gottselige Mutter — dürfte er in Prerau kennengelernt haben, da das Haus Nr. XIIIa ihrer Eltern durch ein gemeinsames Vorhaus mit dem Hause Nr. XIIIb verbunden war, welches den Eltern meines Vaters gehörte; beide Brautleute waren somit Nachbarskinder.
Über die Dauer des Brautstandes kann niemand mehr Auskunft geben; die Besuche in Iglau, woselbst die Braut bei ihren Eltern lebte, dürften sehr selten gewesen sein, da der Postverkehr zwischen Iglau und Prerau sehr umständlich und zeitraubend war.
Die Vermählung fand, wie schon erwähnt, im Juni 1832 statt. Als Mitgift dürfte der Vater einen bescheidenen Barbetrag (den Ehevertrag überließ ich vor einigen Jahren dem Jüdischen Museum in Wien) und später auch den Hausanteil Nr. XIIIa erhalten haben.
Ich vermute, daß der Vater nach der Verheiratung den Getreidehandel betrieben hat; er dürfte mit der Gutsverwaltung im benachbarten T. in Verbindung gestanden sein, welche auch nach dem Ableben des Gutsherrn ohne Unterbrechung aufrechterhalten wurde.
Auch dürfte er Subarendator gewesen sein, da noch ein sogenanntes Wohlverhaltungszeugnis des Prerauer Oberamtes de dato 5.IX.1846 vorhanden ist, in welchem der Oberamtmann Richter in dem damaligen höflichen Kurialstil bestätigt, daß der Israelit und Hausbesitzer Jakob Briess schon seit mehreren Jahren das Subarendierungsgeschäft ohne irgend einen Anstand betrieben hat und für bevorstehende Lieferungen empfohlen wird.
Zu dem Worte „Herr“ konnten sich die damaligen Behörden nicht aufschwingen; sie befürchteten vermutlich ihrer Würde dadurch etwas zu vergeben. Auch die Konfession fügten sie bei, in der Regel mit dem Worte „der Jud“, als wenn diese irgend welchen Einfluß auf das zu liefernde Heu und Getreide gehabt hätte!
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Der gottselige Vater war ernst veranlagt und las in seinen Mußestunden abwechselnd hebräische und deutsche Bücher und außer Lessing, Schiller, Goethe, Shakespeare, mit Vorliebe philosophische Werke, z.B. Phädon von Mendelssohn, Maimonides, Spinoza, Kant, Leibnitz usw.
Er erfreute sich großen Ansehens in der Gemeinde, galt für klug und wurde oft zu Rate gezogen. Auf seinem Epitaph heißt es deshalb auch unter anderem: Kaulau weazossau nischmouh beszaus adossau, d.i. seine Ansicht und sein Rat wurden gerne befolgt.
Viele Jahre war er Towhakahal (Vorsteher-Stellvertreter) der Kehilla und gleichzeitig Vorsteher des Jugendbundes (Chewras Bachurim) d.i. der erwachsenen jungen Leute. Die Synagoge in Prerau war sehr klein; sie konnte die erwachsenen Leute nicht gleichzeitig fassen, weshalb die ledigen jungen Männer ihren Gottesdienst im Nebentempel (der sogenannten polnischen Schul) abhielten und ihren selbständigen Vorsteher hatten.
Ich erinnere mich lebhaft, daß an einem Schmini Averes (d.i. am achten Tage des Laubhüttenfestes) nachmittags für die Jugend ein reichliches Buffet in der elterlichen Wohnung aufgestellt war, wobei der Vater nachmittags nach dem Minchagebet einen humoristischen Vortrag aus dem Midrasch hielt, welcher mit großem Beifall aufgenommen wurde.
„An der Rede erkennt man ja den Mann“, sagt Paul Heyse. Nachher wurde er von allen Teilnehmern zur Synagoge geleitet, wo der Maariw-Gottesdienst des Simchasthora (Thorafreudenfest) begann.
Dieser war sehr feierlich; die Lobgesänge, als : Atoh horeesso lodaas (Gott hat den Israeliten geoffenbart) wurden vom Chasan mit den altertümlichen Melodien rezitiert, sämtliche Sforim — vielleicht zwanzig Stück — wurden vom Rabbiner und allen Gemeindewürdenträgern und Funktionären nach einer von altersher bestehenden Rangordnung siebenmal in den Hauptgängen der „Schul“ herumgetragen, damit jeder Anwesende Gelegenheit habe, die Thora mit der im Tallis eingewickelten Hand zu küssen.
Den Thoraträgern folgten die Kinder im Alter von fünf bis sechs Jahren; sie trugen kleine Fahnen mit verschiedenen Emblemen geziert, z.B. Mogen David (Wappen des Königs David, aus zwei ineinandergeschobenen Dreiecken bestehend), Löwe, Wolf usw.; an den Fahnenstangen brannten buntfarbige Wachskerzchen.
Nur bei der damals obwaltenden Leichtfertigkeit war es möglich, das Brennen von Kerzchen zu gestatten. Bei den leicht entzündlichen Stoffen hätte ein Brand entsetzliche Folgen gehabt, denn die „Schul“ besaß nur einen einzigen Ausgang, der zugleich als Eingang diente.
Der Mussaph-Gottesdienst (Hauptgottesdienst, Hochamt) am Simchasthora selbst stand im Zeichen der Fröhlichkeit; jeder Einzelne bemühte sich, seine Stimmung der Thorafreudigkeit anzupassen.
Jeder Verheiratete wurde aufgerufen; zum Schlusse wurden auch „Kol haneorim“, d.i. alle Knaben im Alter von fünf bis sechs Jahren, kollektiv zur Thora gerufen.
Bei dieser Alijah nahmen die meisten Väter ihren jüngsten Knaben auf den linken Arm, umhüllten ihn mit dem Tallis, gingen mit ihm auf den Almemor und sprachen den Vers: „Hamaloch hagauel“ (Mein Schutzengel segne diese Knaben usw.) aus dem Abschiedssegen des Patriarchen Jakob (I.Mos. K.48, V.16) laut mit.
In diesem Moment warfen die Mütter der aufgerufenen Knaben durch die nach maurischem Baustil engmaschig vergitterten Fenster der im ersten Stock befindlichen „Weiberschul“ Nüsse und Backwerk in die Männerschul hinab, für die nicht mehr aufgerufenen älteren Knaben, welche beides auffingen.
Nach orientalischer Sitte waren und sind auch gegenwärtig Männer- und Frauenschul getrennt; erstere ebenerdig und die der Frauen darüber im ersten Stock als Galerie.
Der Chasan konnte die anstrengende Leistung beim Aufrufen und Verrichten der Mischeberach nur bewältigen, indem er sich in den Zwischenpausen während des „Leienens“ (Vorlesen aus der Thora) mit Wein fast bis zur Trunkenheit stärkte.
Er wurde erst etwas nüchterner, als er zum Schlusse die drei „Chossanim“ (symbolisch Bräutigame der Thora) aufrief, das waren: Rabbiner, Gemeindevorsteher und als dritter eine andere angesehene Person.
Mit diesen drei Persönlichkeiten durfte er es sich nicht verderben, weil er sonst, abgesehen von ihrem maßgebenden Einfluß in der Gemeinde, bei dem reichhaltigen Buffet, welches sie nach alter Gepflogenheit nachmittags den Besuchern darbieten mußten, nicht hätte erscheinen dürfen.
Das vorher erwähnte Heben der Kinder auf den Arm der Väter erinnert mich an die damalige Sitte, ihnen bei wichtigen Anlässen (z.B. Besuch einer hohen Persönlichkeit, Grundsteinlegung, Sichtbarwerden eines Kometen usw.) einen Backenstreich zu geben, damit sich ihnen dieses Ereignis dauernd einpräge. In den Dörfern geschah Ähnliches beim Setzen von Grenzsteinen, und sogar Goethe erwähnt diese Sitte in einer seiner Reisebeschreibungen.
Als bezeichnend für die ernste Veranlagung der Juden erscheint mir, daß sie während der Sukkaus-Feiertage — trotzdem diese ausschließlich der Erntefreude (sman szimchoszenu) gewidmet sein sollten — das angeblich von König Salomo verfaßte Buch Kohelet (der Sammler, bezw. der Prediger) als Erbauungslektüre wählten, welches mit den Worten beginnt: „Nichtigkeit der Nichtigkeiten, alles ist nichtig.“ „Hawel hawolim, haaul howel.“ Das Lesen dieses den Pessimismus verherrlichenden Buches fand in der Regel an dem innerhalb der neun Sukkaustage fallenden Sabbat chalhamaued statt.
* * *
Am Sabbat und den gewöhnlichen Festtagen konnte der Chasan das Vorbeten allein besorgen; am Rauschhaschonoh und am Jaumkipur (Neujahr und Versöhnungstag) war dies schon aus physischen Gründen — besonders am Jaumkipur wegen des ganztägigen Fastens — unmöglich und da behalf man sich, indem man stimmbegabte, würdige Balbatim, selbst wenn ihnen Noten eine terra incognita waren, mit dem Vorbeten der drei Mussafim betraute und zwar zwei am Rauschhaschonoh und einen am Jaumkipur.
Ein derartiges Vorbeten galt für den Betreffenden als eine große Ehrung und Auszeichnung und es gab viele Intriguen, um solcher Auszeichnung teilhaftig zu werden.
Da die „gottbegnadeten Sänger“ — als solche hielten sie sich — schon mehrere Wochen vorher wußten, welches Mussaf sie vorbeten werden, so hatten sie genügend Zeit, sich gesanglich vorzubereiten.
Die Vorbereitung bestand darin, daß sie während dieser Zeit dem Spiele der christlichen Musikanten (beim Tanze, bei Leichenbegängnissen, bei Ständchen usw.) und den Leierkästen mit Aufmerksamkeit zuhörten, um sich die Melodien einzuprägen, da jeder etwas ganz Besonderes bringen wollte.
Infolgedessen geschah es nicht selten, daß sie die erhabenen, tiefernsten Gebetsabschnitte, und zwar:
den „Mechalkelchajim“ (d.i. Gottes Fürsorge für alle Geschöpfe und sein Walten über Leben und Tod) mit einer Melodie aus dem „Don Juan“ oder aus den „Lustigen Weibern von Windsor“,
den „Unszane Taukef“ (d.i. eine religiöse Betrachtung über das Gottesgericht auf Erden und die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens) nach der Melodie des „Barbier von Sevilla“ oder der „Zauberflöte“ und
die „Keduscha“ (d.i. Heiligung und Verherrlichung Gottes) mit der Arie aus „Rigoletto“ oder nach dem Scherzo aus dem „Sommernachtstraum“ vortrugen.
Welche Andacht sie dadurch bei vielen Zuhörern erweckten, läßt sich leicht ermessen! Nichtsdestoweniger unterließ man jedwede Kritik; man prüfte nicht, ob es synagogale oder profane Melodien waren und deshalb wurden auch die „Künstler“ nach beendetem Gottesdienste allseitig mit reichlichem „Jejascher Kauach“ (verstümmelt aus Schekauach, d.i. Beifall und Segensspruch zugleich) beglückwünscht; nebst dem erhielten sie auch am Tage ihres Vorbetens eine bevorzugte Alija, welche sonst im allgemeinen an den Meistbietenden vergeben wurde.
Wenn man die Absicht eines eifrigen Lizitanten erriet, geschah es nicht selten, daß man ihm die Erreichung der Alija erschwerte und deren Preis steigerte.
Der Schames (Synagogendiener) ging nämlich mit einer Tafel, auf welcher die Alija aufgeschrieben war, z.B. Schlischi, der Dritte oder Achraum, der Letzte (d.i.die Reihenfolge der Aufzurufenden beim Vorlesen aus der Thora) in den Hauptgängen der Synagoge herum oder er stand mit der Tafel auf dem Almemor und da hörte man nicht selten: Tausend, Dreitausend, Zehntausend usw. bieten.
Wenn ein Andersgläubiger diese horrenden Zahlen gehört hätte, würde er die Bieter für Nabobs gehalten haben, während es sich in Wirklichkeit bloß um einige Kreuzer handelte, denn das Tausend der Alija kostete nur fünf bis sechs Kreuzer.
Die Berechtigung, aufgerufen zu werden, galt als Auszeichnung, welcher nicht jedermann für würdig befunden wurde, besonders, wenn man glaubte, daß er es mit der Sabbat- oder Feiertagsheiligung nicht genau nehme.
Mir ist noch folgender Vorfall im Gedächtnis:
Zu Schowuaus (Pfingsten) sollte Adolf Mayer, ein Sohn angesehener Eltern, nach fast zwanzigjähriger Abwesenheit aus Ungarn zu Besuch eintreffen. Bei der damaligen geringen Population waren die meisten Familien miteinander befreundet und die Verhältnisse jedes Einzelnen bekannt; jedes halbwegs wichtige Ereignis wurde als Familienangelegenheit behandelt. Dieser Besuch war daher wochenlang in der Gemeinde bekannt.
Den ganzen Erew Schowuaus (Rüsttag des Pfingstfeiertages) warteten die Eltern (Chajemleb und Lieble Mayer) auf seine Ankunft, und als diese bis 8 Uhr abends — dem Beginn des Festtages — nicht erfolgte, rechnete man nicht mehr darauf; denn in den Jomtauw hineinzufahren wäre doch eine große Aweroh (d.i. Sünde) gewesen; der Reisende mußte nach jüdischem Religionsgesetze dort zurückbleiben, wo die Post oder das Schiff vor Eintritt des Sabbat bezw. des Feiertages gerade hielt.
Unglücklicherweise langte der junge Mann in der Nacht an, also bereits nach Eintritt des Feiertages.
Die Aufregung in der Gemeinde war darüber so groß, daß der Angekommene es gar nicht wagte, am ersten Schowuaus-Tage in die Synagoge zu gehen. Erst als er beim Rabbiner eine glaubwürdige Entschuldigung mündlich vorgebracht hatte, gestattete dieser, daß man den Gast am 2. Schowuaus-Tage aufrief und als er sogar das „Jeziv Pisgom“ (ein Loblied) und die Haftara (Abschnitt aus den Propheten-Schriften) mit der traditionellen Melodie rezitierte, war der Bann gebrochen und er erhielt den Besuch der angesehensten Gemeindemitglieder, nachdem man zuvor — wie üblich — seinen Eltern Wein, Lemonen und Backwerk zugeschickt hatte.
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Wie bereits erwähnt, war mein Vater Towhakahal; der hochbetagte Roschhakahal (erster Vorsteher) Mos.Schindler wohnte in der Vorstadt Predmost (vor der Brücke) und da diese vom Gemeindehause reichlich eine halbe Stunde entfernt war, so ruhte er, vom weiten Wege ermüdet, stets beim gottseligen Vater aus, bevor er zur Gemeindesitzung ging.
Die Vorbesprechung fand in der Regel im Privatzimmer des Vaters statt, von welchem ich im anstoßenden Zimmer durch die verhüllte Glastür unwillkürlich alles hörte, z.B. daß man indirekt erfahren habe, wann und um welche Nachtstunden der Amtmann als Vertreter des Patronatsherrn, Grafen Magnis, die drakonische Maßregel der Revision der Emigrantenwohnungen vornehmen wolle.
In der Regel geschah dies in der Nacht von Freitag auf Samstag.
Selbstverständlich war in der Wohnung nur der „ledige Mann“ anwesend. Seine — staatlich zur Konkubine degradierte — Frau hielt sich mit den Kindern bis nach der Revision bei ihren Eltern oder Verwandten auf.
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Einen wichtigen Gegenstand der vertraulichen Vorbesprechung bildete einmal die bevorstehende Assentierung.
Wegen der geringen Anzahl der ledigen Männer brauchte die kleine Judengemeinde Prerau jährlich nur „einen viertel oder einen halben Mann“ zu stellen. Da es nun nicht anging, einen Rekruten zu vierteilen oder zu halbieren, so stand die Gemeinde mit der Militärbehörde im Verrechnungswege, gleichsam im Kontokorrentverkehr; sie war oft einen viertel oder einen halben Mann schuldig oder hatte einen viertel oder halben Mann gut (s.Anm.16).
Einmal wurde die Militärbehörde ungeduldig, weil sie zur Zeit des polnischen Bauernaufstandes und der Annektierung Krakaus im Jahre 1846 Mannschaft benötigte, und die Gemeinde war in nicht geringer Sorge, wo sie in dieser kriegerischen Zeit einen Mann hernehmen sollte (s.Anm.17).
Da bot sich ihr durch einen glücklichen Zufall ein solcher Stellvertreter in der Person eines eben ausgedienten Landwehrmannes dar. „Mosche Landwehr“ hieß der Mann (nomen est omen).
Als Handgeld erhielt er einen entsprechenden Betrag aus dem zur Unterstützung der Assentierten bestehenden Fond der Chewra Bachurim und die Zusicherung einer lebenslänglichen Versorgung in der Gemeinde. Einen ähnlichen Fond gründete später die Militärbehörde aus den Geldern der Losgekauften (ursprünglich 1000 bis 1500 Gulden Konv.Münze) und später aus der Militärtaxe der Untauglichen.
Mosche Landwehr wurde jedoch nach kurzer Zeit beurlaubt, weil mittlerweile die „Ruhe“ im Aufstandsgebiete hergestellt war.
Aber nun begann die Zeit der „Unruhe“ für die Gemeinde.
Mosche Landwehr — unter anderem Namen kannte man ihn nicht — war nicht nur die Plage, sondern auch der Alp der Gemeinde.
Da ihm weder die Wohnung im „Hekdesch“, noch die Einlegerkost, die er täglich in einem anderen Hause erhielt, behagen wollte und ihm auch die bei der Beurlaubung erhaltene verschlissene Montur nicht fein genug schien — der weiße Uniformfrack (die Soldaten hatten damals keine Waffenröcke, sondern nur Fräcke) war ohne die obligate Kreideputzung total vergilbt — so mußte ihm die Gemeinde vor allem einen neuen Zivilanzug anschaffen. Dieser hielt auch nicht lange, weil Mosche Landwehr bei seiner Vorliebe für den Fusel sehr häufig in einem Straßengraben nächtigte.
Man zog nun vor, ihn mit reichlichem Tachengeld zu versehen und wandern zu lassen; aber lange duldete es ihn nicht in der Fremde, denn die Erzählung seiner erdichteten Kriegserlebnisse fand nicht immer ein gläubiges und zahlendes Publikum, wodurch er sich in seiner Eigenliebe sehr gekränkt fühlte.
Der Circulus vitiosus begann von neuem und hätte gewiß noch jahrelang gedauert, denn Mosche Landwehr lebte als Pensionist sorgen- und kummerlos, wenn er nicht plötzlich dem delirium tremens erlegen wäre.
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Vor der nächsten Assentierung begann in der elterlichen Wohnung abermals die vertrauliche Beratung, wer als Rekrut abgestellt werden sollte.
Zu meinem nicht geringen Schrecken hörte ich durch die ominöse Glastüre den Namen eines sehr nahen Verwandten meines einzigen und besten Freundes; man nannte uns David und Jonathan. Die Bezeichnung „Orestes und Pylades“ ebenso „Achilles und Patroklos“ war im Ghetto unbekannt.
Ich befand mich in einem peinlichen Dilemma! Auf der einen Seite die Reputation des Vaters als dirigierendem Vorstand — der Roschhakahal war kurz nach der vertraulichen Besprechung erkrankt — wenn ich das Gehörte verriet, und auf der anderen Seite der zu gewärtigende Vorwurf meines Freundes!
Auch hier half der Zufall.
Die Assentierung fand in Weißkirchen statt und zwar an einem Sabbat und deshalb mußten die Rekruten bereits am Freitag vormittag auf einem Leiterwagen dahinfahren.
Alle waren schon zur Abfahrt versammelt; im letzten Augenblick entfernte sich der in der vertraulichen Besprechung zur Abstellung Designierte unter einem nichtigen Vorwande in ein Durchhaus, so daß die anderen nach stundenlangem, vergeblichem Suchen ohne ihn wegfahren mußten.
Der betreffende Flüchtling Ch.M. war ein kräftiger junger Mann, bekannt unter dem Spitznamen „Chajem Gaslen“, und fürchtete, daß er allen anderen Rekruten vorgezogen werden würde. Er meldete sich jedoch kurz nachher freiwillig zum Militär, wurde aber für untauglich erklärt.
Nachstehende mutige Tat des Herrn Harsch Tschiassny, eines Altersgenossen des genannten Ch.M., will ich nicht der Vergessenheit anheimfallen lassen.
Es war damals üblich, daß die Balbatim (Familienväter) am ersten Halbfeiertage des Pessach vormittags zum jüdischen Weinschenker gingen, um den zum Seder entnommenen Wein zu bezahlen und bei dieser Gelegenheit eine Kostprobe vorzunehmen wegen weiteren Bezuges des wöchentlich zum Kiddusch (Segensspruch bei Beginn des Sabbats oder Feiertages) benötigten Weines.
Unter den Balbatim war auch ein Herr Donat, ein reicher Mann und Vater einer einzigen, sehr schönen ledigen Tochter (s.Anm.18). Seine Abwesenheit benützte der Sohn einer in Prerau wohnenden berüchtigten Diebsfamilie, um sich an der Tochter oder dem Gelde des Herrn Donat zu vergreifen; er wurde jedoch vom obgenannten Harsch Tschiassny, welcher im Vorbeigehen den Hilferuf gehört hatte, attrappiert und konnte sich nur, indem er ihm einen tiefen Schnitt in das Kinn versetzte, durch einen Sprung aus dem ebenerdigen Fenster flüchten.
Er wurde nie wieder in Prerau gesehen; auch seine Eltern zogen bald darauf weg, da sie sich vor ihren Berufsgenossen schämten, daß ihrem Sohn der Coup beim Herrn Donat nicht gelungen war; denn auch in der Diebsgilde gab es einen Ehrenkodex, im Sinne des im alten Sparta Griechenlands geltenden Prinzips, daß „Stehlen erlaubt, Erwischtwerden eine Schande“ sei.
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